Geschichte des Westens
Fühlung zu bleiben.
Zwei Tage nach der Unterredung zwischen Hindenburg und Papen, am 11. Januar 1933, machte jener Interessenverband gegen Schleicher mobil, der acht Monate zuvor aktiv am Sturz Brünings mitgewirkt hatte: der Reichslandbund. Unmittelbar vor einer Besprechung beim Reichspräsidenten, an der auch Reichskanzler von Schleicher, Reichswirtschaftsminister Warmbold und Reichsernährungsminister von Braun teilnahmen, übergab der Verband der Presse eine Entschließung, die einer Kriegserklärung gleichkam. Darin behaupteten die Agrarier, unter Duldung der derzeitigen Regierung habe die Verelendung der deutschen Landwirtschaft, insbesondere der bäuerlichen Veredelungswirtschaft, ein Ausmaß angenommen, das man selbst unter einer rein marxistischen Regierung nicht für möglich gehalten habe. Die Reichsregierung brach daraufhin die Beziehungen zum Reichslandbund ab. Der Reichspräsident aber, der sich dem ostelbischen Rittergutsbesitz seit jeher persönlich eng verbunden fühlte, schloß sich dem Boykott nicht an. Am 17. Januar schrieb er dem Präsidium der größten landwirtschaftlichen Interessenorganisation, er hoffe, daß die von ihm am gleichen Tag unterzeichnete Verordnung über einen verbesserten Vollstreckungsschutz zur Beruhigung der Landwirtschaft beitragen werde.
Dem Eklat zwischen der Reichsregierung und dem Reichslandbund folgte wenig später ein anderes schlagzeilenträchtiges Ereignis: die Landtagswahl in Lippe-Detmold. Die Nationalsozialisten hatten den zweitkleinsten deutschen Staat unter stärkstem persönlichen Einsatz Hitlers mit einer beispiellosen Welle von Kundgebungen überzogen, um die Scharte der Stimmenverluste bei der Reichstagswahl vom 6. November auszuwetzen, und sie schafften es tatsächlich, 6000 Stimmen hinzuzugewinnen, was einen Anstieg von 34,7 auf 39,6 Prozent bedeutete. Der Sieg wurde propagandistisch weidlich ausgeschlachtet. Ein Verzicht Hitlers auf den Posten des Reichskanzlers in einer «nationalen Regierung» war fortan undenkbar. Am 16. Januar rechnete der Führer der Nationalsozialisten scharf mit seinem ehemaligen Reichsorganisationsleiter ab. Das Ergebnis war eindeutig:Gregor Strasser fand keine Verteidiger mehr; Hitlers innerparteiliche Stellung war so unangefochten wie nie zuvor.
Am gleichen Tag legte sich die Reichsregierung für den Fall eines Mißtrauensvotums auf die Auflösung des Reichstags und den Aufschub von Neuwahlen bis zum Oktober oder November 1933 fest. Eine Alternative zu diesem Bruch der Reichsverfassung, die die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen vorsah, hätte darin bestanden, das Mißtrauensvotum einer negativen, das heißt nicht regierungsfähigen Mehrheit zu ignorieren und die gestürzte Regierung geschäftsführend im Amt zu belassen. Zu einem solchen Vorgehen, das auch namhafte Staatsrechtslehrer, darunter Heinrich Herrfahrdt und Carl Schmitt, für gerechtfertigt hielten, hatten um die Jahreswende 1932/33 mehrere politische Praktiker dem Reichskanzler geraten; ein entsprechendes Gutachten ist dem Protokoll der Ministerbesprechung vom 16. Januar beigefügt. Doch offenbar sah Schleicher in einem Mißtrauensvotum eine derart schwerwiegende Minderung des Prestiges seiner Regierung, daß er diesen Ausweg nicht ernsthaft in Erwägung zog. Ob der Reichspräsident der vom Kabinett vorgeschlagenen, ungleich riskanteren Krisenlösung, dem Aufschub von Neuwahlen, zustimmen würde, war höchst ungewiß: Mit dem «Planspiel Ott» hatte Schleicher, ohne es zu wollen, dem Staatsoberhaupt Gründe geliefert, sich in dieser Frage gegen die Reichsregierung zu stellen.
Wenige Tage nach der Kabinettsitzung war die Presse voll von Spekulationen über die möglicherweise unmittelbar bevorstehende Proklamation des Staatsnotstands. Am 19. Januar teilte der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Reichstag, Rudolf Breitscheid, auf einer Funktionärsversammlung der SPD in Berlin-Friedrichshain mit, was Schleicher ihm am 28. November über einen eventuellen Aufschub von Neuwahlen gesagt habe, und er zitierte auch seine eigene Antwort: «Eine solche Provokation wird ohne Zweifel die stärksten Stürme hervorrufen.»
Noch mehr Aufsehen erregte am gleichen Tag eine andere Enthüllung: Im Haushaltsausschuß des Reichstags berichtete der Zentrumsabgeordnete Joseph Ersing, ein Sekretär der christlichnationalen Gewerkschaften, über den Mißbrauch öffentlicher Gelder für die Sanierung hochverschuldeter Rittergüter, namentlich in Ostpreußen – den
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