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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Möglichkeit einer von Hitler geführten Regierung. Die erste Variante wurde nicht grundlos mit der Gefahr des Bürgerkriegs gleichgesetzt: Ein deutschnational geprägtes Präsidialkabinett hätte neun Zehntel der Bevölkerung gegen sich gehabt und wäre von den Kommunisten über die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften bis hin zu den Nationalsozialisten vehement bekämpft worden. Wenn es einer «nationalen Regierung» unter Hitler gelang, einen parlamentarischen Rückhalt bei den katholischen Parteien zu finden, erschien sie den meisten Beobachtern, unter Einschluß des entlassenen Reichskanzlers von Schleicher, als das kleinere Übel. Am Abend des 28. Januar hatte sich selbst der sozialdemokratische «Vorwärts» in diesem Sinn geäußert.
    Am Vormittag des 30. Januar tagte, während in der Wilhelmstraße die Würfel über das Schicksal Deutschlands fielen, im nahen Reichstagsgebäude der Parteivorstand der SPD zusammen mit Vertretern der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und den Freien Gewerkschaften. Auf die Nachricht von der Ernennung des Kabinetts Hitler reagierten Parteivorstand und Reichstagsfraktion der SPD mit einem Aufruf, der vor «undiszipliniertem Vorgehen einzelner Organisationenund Gruppen auf eigene Faust» warnte und «Kaltblütigkeit, Entschlossenheit» das Gebot der Stunde nannte. Tags darauf lehnte Rudolf Breitscheid, der den erkrankten Parteivorsitzenden Otto Wels vertrat, im Parteiausschuß außerparlamentarische Aktionen ausdrücklich ab: Wenn Hitler sich zunächst auf dem Boden der Verfassung halte, wäre es falsch, ihm den Anlaß zum Verfassungsbruch zu geben.
    Die Kommunisten hielten hingegen am 30. Januar die Stunde zum Losschlagen für gekommen. Erstmals seit dem «Preußenschlag» vom 20. Juli 1932 sprach das Zentralkomitee der KPD die Führungen der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften wieder direkt an. An die SPD, den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, die Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände und die christlichen Gewerkschaften erging die Aufforderung, «gemeinsam mit den Kommunisten den Generalstreik gegen die faschistische Diktatur der Hitler, Hugenberg, Papen, gegen die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen, für die Freiheit der Arbeiterklasse durchzuführen».
    Eine proletarische Einheitsfront war jedoch am 30. Januar 1933 ein noch aussichtsloseres Unterfangen als am 20. Juli 1932. Angesichts von über 6 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen war ein längerer Generalstreik nicht durchzuführen. Ein befristeter Generalstreik aber wäre von der neuen Regierung eher als Schwächezeichen denn als Demonstration der Stärke begriffen worden. Zudem war extrem unwahrscheinlich, daß die Kommunisten einem Aufruf zum Abbruch des Ausstands gefolgt wären. Nachdem die KPD die Sozialdemokraten jahrelang als «soziale Hauptstütze der Bourgeoisie» und als «Sozialfaschisten» bekämpft und die «Rote Fahne» noch am 26. Januar den Vorschlag des Vorwärts, SPD und KPD sollten sich auf einen «Nichtangriffspakt» verständigen, als «infame Verhöhnung des antifaschistischen Berlin» zurückgewiesen hatte, fehlte der kommunistischen Parole des gemeinsamen Abwehrkampfes die elementarste Voraussetzung: die Glaubwürdigkeit. Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften mußten damit rechnen, daß die Kommunisten sofort zu jener revolutionären Gewalt greifen würden, auf die die Nationalsozialisten nur warteten, um ihrem Terror den Schein der Legitimation zu verschaffen. Ein Bürgerkrieg aber konnte nur mit einer blutigen Niederlage der Arbeiterorganisationen enden: Gegenüber dem, was die paramilitärischen Verbände der Rechten, die Polizei und die Reichswehr aufzubieten hatten, war die gespaltene Linke chancenlos.
    Am Abend des 30. Januar gehörten die Straßen nicht nur in Berlin, sondern vielerorts in Deutschland Hitlers «braunen Bataillonen». Am folgenden Tag nahm der neue Reichskanzler jene Verhandlungen mit dem Zentrum auf, zu denen er sich Papen gegenüber verpflichtet hatte. Hitler führte die Gespräche nur zum Schein: Es ging ihm um den Nachweis, daß mit dem am 6. November 1932 gewählten Reichstag nicht regiert werden konnte. Das Zentrum hingegen war an einer echten Koalition mit der NSDAP interessiert und über die Ernennung Hitlers sehr viel weniger ungehalten als über die «reaktionäre» Zusammensetzung seines Kabinetts. Hitlers Forderung, den Reichstag ein Jahr lang zu vertagen, mußte der Vorsitzende der

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