Geschichte des Westens
«Osthilfeskandal». Wenn die Kreise hinter dem Reichslandbund, die vom ganzen deutschen Volk immer wieder gewaltige Summen erhaltenhätten, eine solche Sprache führten wie unlängst gegenüber der Reichsregierung, sagte Ersing, dann müsse sich der Reichstag damit befassen. Und wenn die vom Reich gegebenen Gelder nicht zur Abdeckung von Schulden, sondern zum Ankauf von Luxusautos und Rennpferden und zu Reisen an die Riviera verwendet würden, dann müsse das Reich die Rückzahlung der Gelder verlangen. Die Großgrundbesitzer seien bemüht, eine weitere parlamentarische Verhandlung der Osthilfefragen unmöglich zu machen. Deshalb werde hinter den Kulissen die stärkste Aktivität für die sofortige Auflösung des Reichstags entfaltet.
Einen Tag nach Ersings spektakulärer Rede beschloß der Ältestenrat des Reichstags, die für den 24. Januar vorgesehene Einberufung des Plenums auf den 31. Januar zu verschieben. Die Änderung des Zeitplans ging auf die Nationalsozialisten zurück, die allen Grund hatten, einer Plenarsitzung vorerst auszuweichen. Denn nichts sollte die politischen Verhandlungen stören, die Hitler kurz nach der Landtagswahl in Lippe-Detmold wieder auf nah m. Am 17. Januar traf er sich mit Hugenberg und tags darauf erneut mit Papen – beide Male ohne konkretes Ergebnis. Am 21. Januar kündigte die deutschnationale Reichstagsfraktion dem Kabinett Schleicher die offene Opposition an. Der Hauptvorwurf lautete, die Wirtschaftspolitik gleite immer deutlicher in «sozialistisch-internationale Gedankengänge» ab und fördere damit die «Gefahr des Bolschewismus auf dem flachen Lande» – eine Anklage, die die Deutschnationalen in ähnlicher Form im Mai 1932 gegen Brüning erhoben hatten.
Am 22. Januar kamen Papen und Hugenberg ein drittes Mal innerhalb von drei Wochen zusammen, und zwar wie am 18. Januar in der Villa des politisierenden Sektkaufmanns Joachim von Ribbentrop in Berlin-Dahlem. Die Begegnung erhielt besonderes Gewicht dadurch, daß Staatssekretär Meissner und Hindenburgs Sohn Oskar sowie auf nationalsozialistischer Seite Göring und Frick an dem Treffen teilnahmen. Die wichtigste Botschaft Hitlers war die Versicherung, daß er bereit sei, in ein von ihm geführtes Präsidialkabinett in größerer Zahl bürgerliche Minister, wenn auch nicht als Parteivertreter, aufzunehmen.
Als der Reichspräsident am 23. Januar den Reichskanzler empfing, war er über das Dahlemer Treffen bereits informiert. Schleicher berichtete von der Notstandsplanung des Kabinetts und holte sich eineAbfuhr. Die Frage der Auflösung des Reichstags wolle er sich noch überlegen, sagte Hindenburg, den Aufschub der Wahl aber könne er zur Zeit nicht verantworten. «Ein solcher Schritt würde ihm von allen Seiten als Verfassungsbruch ausgelegt werden; ehe man sich zu einem solchen Schritt entschließe, müsse durch Befragen der Parteiführer festgestellt werden, daß diese den Staatsnotstand anerkennen und den Vorwurf eines Verfassungsbruchs nicht erheben werden.»
Am 27. Januar schwirrte Berlin von Gerüchten über die Errichtung einer Diktatur – aber nicht die Schleichers, sondern Papens. Richtig war, daß Hindenburg immer noch Papen und nicht etwa Hitler zum Nachfolger Schleichers machen wollte. Aber der Reichspräsident setzte dabei auf die Mitwirkung der Nationalsozialisten und eine ausreichende Rückendeckung im Reichstag. Den Gedanken eines antiparlamentarischen Kampfkabinetts propagierten dagegen die Deutsch nationalen. Ihr Parteivorsitzender Hugenberg stieß am 27. Januar mit Hitler in der strittigen Frage, welche Partei das preußische Innenministerium übernehmen solle, so heftig aneinander, daß Hitler ein für diesen Tag vereinbartes Gespräch mit Papen absagte. Eine öffentliche Erklärung der NSDAP, sie würde eine von dem früheren Kanzler geführte Diktaturregierung schärfstens bekämpfen, beeindruckte Papen so stark, daß er sich am Abend des 27. Januar Ribbentrop gegenüber nachdrücklicher als bisher für die Leitung des Kabinetts durch Hitler aussprach.
Tags darauf, am 28. Januar, erklärte Schleicher seinen Rücktritt. Unmittelbarer Anlaß war Hindenburgs Weigerung, ihm die Auflösungsorder zu geben. (Von einer Vertagung der Neuwahl war an diesem Tag schon keine Rede mehr.) Noch mehr als die Nachricht von Schleichers Entlassung erregte die Öffentlichkeit die offizielle Mitteilung, der Reichspräsident habe dem früheren Reichskanzler von Papen den Auftrag gegeben, durch Verhandlungen
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