Geschichte des Westens
vom 30. August, also der Auflösung des Reichstags
ohne
Neuwahlen innerhalb von sechzig Tagen, fand damit aber bei seinen Ministerkollegen keine Zustimmung.
Der Reichskanzler betrieb im November 1932, ähnlich wie schon im August, eine zweigleisige Politik: Auf der einen Seite erklärte er sich gegenüber Hindenburg bereit, es beim Präsidialkabinett unter seiner, Papens, Führung zu belassen; andererseits unterstützte er hinter den Kulissen eine Eingabe von pronationalsozialistischen, vorwiegend mittelständischenIndustriellen sowie Bankiers und Gutsbesitzern an den Reichspräsidenten, in der die Übertragung des Kanzleramts an Hitler gefordert wurde. Am 19. November wurde der entsprechende Brief Hindenburg überreicht. Unterschrieben hatten neben anderen der geschäftsführende Präsident des Reichslandbundes, Eberhard Graf von Kalkreuth, der frühere Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, der Kölner Bankier Kurt von Schröder und die Großindustriellen Fritz Thyssen und August Rosterg. Zwei maßgebliche Schwerindustrielle, der Aufsichtsratvorsitzende der Gutehoffnungshütte, Paul Reusch, und der Generaldirektor von Hoesch, Fritz Springorum, sympathisierten zwar mit dem Anliegen des Briefes, verzichteten aber auf eine Unterschrift, weil sie die Ruhrindustrie politisch nicht spalten wollten. Ein Votum
der
Großunternehmerschaft war die Eingabe an Hindenburg also nicht.
Am 17. November erklärte die Reichsregierung, nachdem Versuche des Kanzlers, mit den Parteien ins Gespräch zu kommen, zu keinem positiven Ergebnis geführt hatten, ihren Rücktritt, blieb aber auf Bitten des Reichspräsidenten geschäftsführend im Amt. Am 18. November nahm Hindenburg Verhandlungen mit ausgewählten Parteiführern auf. Die wichtigsten Gespräche waren die mit Hitler am 19. und 21. November. Ihr Resultat war negativ: Eine parlamentarische Mehrheit für den Führer der NSDAP war, da Hugenberg eine Kanzlerschaft Hitlers strikt ablehnte, nicht in Sicht, und der Reichspräsident war seinerseits nicht bereit, Hitler die Führung eines Präsidialkabinetts zu übertragen. Der Führer der Nationalsozialisten konnte Hindenburg auch nicht mit der Drohung beeindrucken, eine Fortdauer der autoritären Regierungsweise werde schon in den nächsten Monaten eine neue Revolution und das bolschewistische Chaos zur Folge haben.
Am 24. November ließ der Reichspräsident über Staatssekretär Meissner Hitler eine schriftliche, sogleich der Presse übermittelte Botschaft zukommen, die im Kern keine andere war als die des 13. August: Der Reichspräsident müsse unter den gegebenen Umständen befürchten, «daß ein von Ihnen geführtes Präsidialkabinett sich zwangsläufig zu einer Parteidiktatur mit all ihren Folgen für eine außerordentliche Verschärfung der Gegensätze im deutschen Volke entwickeln würde, die herbeigeführt zu haben, er vor seinem Eid und seinem Gewissen nicht verantworten könne».
Aus den Gesprächen mit Hitler zog Hindenburg den Schluß, daßan der Proklamation des Staatsnotstands nun nicht mehr vorbeizukommen war. Kanzler und Kabinett aber waren keineswegs so kampfentschlossen wie das Staatsoberhaupt. Reichswehrminister von Schleicher erhielt am 26. November auf seine nachdrückliche Bitte hin vom Reichspräsidenten den Auftrag zu einer weiteren Sondierungsrunde. In diese bezog der Minister bewußt auch die Freien Gewerkschaften und die SPD ein: Schleicher strebte, angeregt von dem Publizisten Hans Zehrer, dem «spiritus rector» des Tatkreises, eine «Querachse» von der reformistischen Linken bis hin zu den Nationalsozialisten oder zumindest zu deren vermeintlich «realpolitischem» Flügel unter dem Reichsorganisationsleiter Gregor Strasser an.
Das Gespräch mit dem Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, Theodor Leipart, am 28. November verlief erfreulich, da der Reichswehrminister eine Aufhebung der umstrittenen Verordnung vom 5. September versprach, die den Arbeitgebern, wenn sie neue Arbeitskräfte einstellten, eine Unterschreitung der Tariflöhne gestattete. Ganz anders reagierte am gleichen Tag Rudolf Breitscheid, der Vorsitzende der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, auf das Werben Schleichers. Der kritische Punkt war erreicht, als der Minister das Verhalten der SPD bei einem etwaigen Aufschub von Neuwahlen bis zum Frühjahr 1933 ansprach. Schleichers Frage, «ob dann die Sozialdemokratie sofort auf die Barrikaden gehen werde», beantwortete Breitscheid wie folgt: «Ich
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