Geschichte des Westens
Legitimation zu verschaffen. Der Staatsstreich der Bolschewiki war von zwingender innerer Logik, wenn man von ihren Prämissen ausging und sich in ihre Situation zu Beginn des Jahres 1918 hineinversetzte. Ihre Politik war eine radikale Reaktion auf die radikale Rückständigkeit Rußlands, die gesellschaftliche sowohl wie die der politischen Kultur. Eben deshalb stieß der Januarputsch im eigenen Land zunächst auf keinen Massenwiderstand. Aber wo immer die Arbeiterschaft an mehr Freiheit und Rechtssicherheit gewöhnt war als in Rußland, mußten die Bolschewiki mit scharfem Widerspruch gegen ihr Vorgehen rechnen, und dieser Widerspruch ließ nicht lange auf sich warten. Er kam am deutlichsten und grundsätzlichsten aus dem Land, auf das die Bolschewiki ihre größten Hoffnungen setzten: aus Deutschland.
Hier waren nicht nur die Mehrheitssozialdemokraten, sondern auch die gemäßigten Kräfte unter den Unabhängigen Sozialdemokraten empört über den Gewaltakt vom 19. Januar. Karl Kautsky, der sich aus Protest gegen die Bewilligung der Kriegskredite durch die MSPD der USPD angeschlossen hatte, hielt Lenin vor, die Diktatur einer von mehreren Parteien sei nicht die «Diktatur des Proletariats» im Sinne von Marx und Engels, «sondern die Diktatur eines Teiles des Proletariats über einen anderen Teil». Die Diktatur einer Minderheit aber finde ihre kraftvollste Stütze in einer ergebenen Armee, und je mehr die Minderheit die Gewalt der Waffen an die Stelle der Majorität setze, «desto mehr drängt sie auch jede Opposition dahin, ihr Heil im Appell an die Bajonette und Fäuste zu suchen, statt im Appell an die Wahlstimmen, der ihr versagt ist: dann wird der
Bürgerkrieg
die Form der Austragung politischer und sozialer Gegensätze».
Der Bürgerkrieg aber war für Kautsky die grausamste Form des Krieges und darum eine Katastrophe. «Im Bürgerkrieg kämpft jede Partei um ihre Existenz, droht den Unterliegenden völlige Vernichtung … Mancher verwechselt den Bürgerkrieg mit der sozialen Revolution, hält ihn für deren Form und ist geneigt, die im Bürgerkriegunvermeidlichen Gewalttätigkeiten damit zu entschuldigen, daß ohne solche eine Revolution nicht möglich sei … Wollte man nach dem Beispiel der bürgerlichen Revolutionen sagen, die Revolution sei gleichbedeutend mit Bürgerkrieg und Diktatur, dann müßte man auch die Konsequenz ziehen und sagen: die Revolution ende notwendigerweise in der Herrschaft eines Cromwell oder Napoleon.»
Selbst auf der äußersten Linken, in der «Spartakusgruppe», waren die Meinungen über den Januarputsch der Bolschewiki geteilt. Clara Zetkin, die Vorkämpferin der sozialistischen Frauenbewegung, und der Historiker Franz Mehring verteidigten die Zerschlagung der Konstituante ohne Vorbehalt: Zetkin meinte gar, der Verzicht auf diese Aktion «wäre ein Verbrechen gewesen, gepaart mit Narrheit». Rosa Luxemburg hingegen, seit Juli 1916 in «Schutzhaft», hielt es für unentschuldbar, daß die Bolschewiki nach der (auch von ihr gerechtfertigten) Verjagung der Verfassunggebenden Versammlung nicht unverzüglich Neuwahlen ausgeschrieben hätten. «Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie auch noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur die Freiheit des anders Denkenden»: So lauteten die meistzitierten Sätze der erst posthum veröffentlichten Schrift «Die russische Revolution». Sie waren allerdings nicht als Bekenntnis zu einem liberalen, sondern zu einem revolutionären, sozialistischen Pluralismus gemeint. An «Klassenverräter» und bürgerliche «Revolutionäre» dachte die Autorin nicht, als sie das Wort von der «Freiheit des anders Denkenden» niederschrieb.
Was die Sprengung der Konstituante anging, hatte Lenin die führenden Bolschewiki hinter sich. Hinsichtlich der Friedensfrage sah es anders aus. Lenin war entschlossen,
jeden
Frieden hinzunehmen, der dem Regime der Bolschewiki das Überleben sicherte. Deswegen plädierte er für die unverzügliche Unterzeichnung des Friedensvertrags. Im gleichen Sinn äußerte sich Stalin. Bucharin und Dzierzyński hielten die Annahme der deutschen Bedingungen für eine politische Katastrophe. Trotzki sprach sich dafür aus, die Unterschrift zu verweigern, aber nicht weiterzukämpfen, sondern die Zersetzung in den Armeen der Mittelmächte zu fördern; «Weder Krieg noch Frieden» lautete seine Parole. Im Zentralkomitee fand sich nach heftigen
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