Geschichte des Westens
1712 gewesen war: zur russischen Hauptstadt. Dort tagte Mitte März der Vierte (außerordentliche) Allrussische Sowjetkongreß. Er stimmte dem Friedensvertrag gegen den erbitterten Widerstand des linken Flügels der Bolschewiki unter Bucharin und der Linken Sozialrevolutionäre zu. Die letzteren erklärten daraufhin ihren Austritt aus dem Rat der Volkskommissare, in dem sie seit dem 22. Dezember 1918 mit zwei Mitgliedern vertreten gewesen waren. Damit verloren die Bolschewiki einen wichtigen Verbündeten, der immer noch über einen gewissen Massenanhang, vor allem in den Gebieten an der Wolga, verfügte. Weitere Widerstandsherde waren das Kosakengebiet am Don und Transkaukasien, wo die Bolschewiki fast gar keinen Rückhalt hatten und innerhalb der sozialistischen Bewegung die Menschewiki stärker waren als die Partei Lenins. Die Gefahr eines umfassenden Bürgerkrieges wuchs also, und mit ihr die Gefahr eines Eingreifens der westlichen Verbündeten in die innerrussischen Machtkämpfe. Mehr als eine «Atempause» hatte der Vertrag von Brest-Litowsk dem Sowjetregime in der Tat nicht verschafft.
Der bolschewistische Terror war freilich nicht nur eine Reaktionauf die extrem schwierige innere und äußere Situation, in der Rußland sich im Frühjahr 1918 befand. Er ergab sich mit innerer Notwendigkeit aus Lenins Vorhaben, in einem rückständigen Land eine neue kommunistische Gesellschaft zu schaffen. Die Schwäche der bürgerlichen Kräfte hatte ihn zu dem Schluß geführt, daß das russische Proletariat beziehungsweise dessen Avantgarde, die Kommunistische Partei, einen Großteil der Aufgabe erledigen mußte, die Marx zufolge die historische Aufgabe der Bourgeoisie war: die Beseitigung der Grundlagen der alten, von Jahrhunderten der «zaristischen Selbstherrschaft» und der «asiatischen Willkür der Behörden» geprägten Gesellschaft und Herrschaftsordnung.
Lenin war insofern ein «Westler», als der Westen für ihn der Inbegriff der wissenschaftlichen, technischen und industriellen Modernität war und Rußland in dieser Hinsicht den Spiegel seiner Zukunft vorhielt. Der Übergang vom julianischen zum gregorianischen Kalender, am 6. Februar 1918 neuer Zeitrechnung vom Rat der Volkskommissare verfügt und am 14. Februar in Kraft getreten, war darum ein Akt von hoher symbolischer Bedeutung, mit dem das revolutionäre Rußland seinen Willen bekundete, sich auf das Niveau der fortgeschrittenen Nationen zu heben. Daß Lenin sich vorzugsweise auf das Vorbild Deutschland berief, war kein Zufall: Das deutsche Kaiserreich stand nicht für die liberale, sondern für eine autoritäre Variante des Westens. Von Deutschland lernen hieß für Lenin auf eine Modernisierung ohne Liberalisierung zu setzen. Das normative Projekt des Westens, wie es in den atlantischen Revolutionen von 1776 und 1789 Gestalt angenommen hatte, bot aus seiner Sicht nichts, woran Rußland sich orientieren konnte. An der Französischen Revolution interessierte ihn, wie schon Marx, nicht so sehr die erste, gemäßigte als vielmehr die zweite, jakobinische oder terroristische Phase. Die Schreckensherrschaft von 1793/94 mußte, wie Marx 1847 schrieb, «nur dazu dienen, durch ihre gewaltigen Hammerschläge die feudalen Ruinen wie vom französischen Boden wegzuzaubern. Die ängstlich-rücksichtsvolle Bourgeoisie wäre in Dezennien nicht mit dieser Arbeit fertig geworden».
Die Grundannahme von Marx und Engels war ein historischer Analogieschluß: So wie die Bourgeoisie eine funktionslos gewordene Klasse, den Feudaladel, abgelöst hatte, so mußte das Proletariat die Bourgeoisie, nachdem diese ihre gesellschaftliche Aufgabe erfüllt hatte, von der Macht verdrängen. Tatsächlich war der «Vierte Stand»,die Arbeiterklasse, in den entwickelten Gesellschaften des Westens nie zu jenem «allgemeinen Stand» geworden, als der sich der «Dritte Stand» 1789 mit einem gewissen Recht fühlen konnte. Für das russische Proletariat galt das erst recht. Nur die strukturelle Schwäche des russischen Bürgertums gab einer Gruppe von großteils der «Intelligenzija» entstammenden Berufsrevolutionären, den Bolschewiki, die Möglichkeit, im Namen des Proletariats die Macht an sich zu reißen.
Die jakobinische «terreur» war nur ein Durchgangsstadium gewesen, dem erst der Thermidor, eine neuerliche Regierung gemäßigter Kräfte, und dann die Herrschaft Napoleons folgten. Um zu verhindern, daß sich in Rußland Ähnliches wiederholte, waren die Bolschewiki, die Lenin
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