Geschichte des Westens
Regionen erst sehr viel später zum Abschluß. Die landlosen oder landarmen Bauern erhielten im Durchschnitt 80 Prozent der Verteilungsmasse, während der Rest an Staat, Kommunen und Genossenschaften ging. Mit der Landverteilung allein waren die Probleme der Bauern aber schon deswegen nicht zu lösen, weil der Hunger während des Krieges eine große Zahl von Menschen aus der Stadt aufs Land getrieben hatte, wodurch die Zahl der Personen, die Anspruch auf Landzuteilung hatten, um etwa 3 Millionen wuchs. Der Landanteil der Bauern schrumpfte infolgedessen, so daß man von einer Nivellierung der ländlichen Besitzstrukturen auf einem niedrigen und häufig unrentablen Niveau sprechen kann. Die Schaffung von bäuerlichem Privateigentum entsprach nicht dem, was man gemeinhin unter «Sozialismus» verstand. Im Rußland des Jahres 1917 aber bildete diese Art von Bodenreform eine Vorbedingung der Machtergreifung und Machtbehauptung der radikalsten Sozialisten, der Bolschewiki.
Für die Friedensverhandlungen, die am 22. Dezember in Brest-Litowsk begannen, hatten die Bolschewiki eine revolutionäre Neuerung durchgesetzt: Sie wurden öffentlich geführt. Nachdem der Ratder Volkskommissare bereits Ende November alle Geheimverträge zwischen dem Zarenreich und der Entente veröffentlicht hatte, war dieser Schritt nur logisch. Die Vertreter des neuen Rußland erhielten dadurch die Möglichkeit, den Verhandlungstisch als Tribüne für revolutionäre Propaganda zu nutzen und die Mittelmächte als Imperialisten zu entlarven. Die deutsche Seite hatte sich am 18. Dezember beim Kreuznacher Kronrat auf ein expansives Programm verständigt, zu dem ein «Selbstbestimmungsrecht» für Polen, Litauen und Kurland gehörte. Die Ukraine, auf deren Unabhängigkeit Berlin und Wien hinarbeiteten, sollte nach dem Willen der deutschen Schwerindustrie das Reich mit phosphorarmen Erzen und Manganerzen beliefern, während Österreich-Ungarn vor allem am ukrainischen Getreide interessiert war.
Nachdem der österreichische Außenminister Czernin am 25. Dezember, dem ersten Weihnachtsfeiertag, nach Abstimmung mit den Deutschen in betont konzilianter Form auf die Grundsatzrede des russischen Delegationsführers Adolf Joffe, ein flammendes Plädoyer für einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, einschließlich der Kolonialvölker, geantwortet und damit allgemeine Verwirrung gestiftet hatte, sorgte einen Tag später der deutsche Generalmajor Max Hoffmann, der Chef des «Generalstabs Oberost», für Klarheit. Die russische Seite verstehe offenbar den Verzicht auf gewaltsame Annexionen anders als die Mittelmächte, sagte er. Diese bestünden auf der freiwilligen Loslösung bestimmter Gebiete von Rußland, das heißt Polens, Litauens und Kurlands. Die russische Delegation war empört, drohte mit dem Abbruch der Verhandlungen und erreichte dann am 28. Dezember eine zehntägige Konferenzpause, in der sie neue Instruktionen einholen wollte. Innerhalb dieser Frist sollten auch die anderen kriegführenden Mächte erklären, ob sie zu einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen bereit waren (an diese Bedingung hatten die Mittelmächte ihre Zustimmung geknüpft). Ob die Verhandlungen wieder aufgenommen wurden, war eine Zeitlang ungewiß.
Am 8. Januar 1918 kehrte die russische Delegation, diesmal unter Führung von Leo Trotzki, seit der Oktoberrevolution Volkskommissar für auswärtige Beziehungen, nach Brest-Litowsk zurück. Trotzki nutzte die Chance, die Annexionspläne der Mittelmächte öffentlich anzuprangern, auf wirkliche und nicht bloß scheinbare, manipulierteSelbstbestimmung der Litauer, Letten und Polen zu pochen und an die Friedenssehnsucht der Völker, vor allem des deutschen Volkes, zu appellieren. Zusammen mit den inzwischen bekannt gewordenen Forderungen des Generals Hoffmann bewirkte das weltrevolutionäre Pathos Trotzkis Massenaktionen in Deutschland und Österreich, die die Bolschewiki mit höchsten Erwartungen erfüllten. In Wien rief die österreichische Sozialdemokratie für den 14. Januar zu Großkundgebungen auf; am gleichen Tag begann eine Welle von Streiks, die große Teile des Landes erfaßten.
Am 18. Januar (dem Tag, an dem der Streik auch auf Budapest übergriff) empfing Außenminister Czernin eine Abordnung des kurz zuvor gewählten Wiener Arbeiterrates und sicherte ihr zu, daß seine Regierung keine Gebietserwerbungen auf Kosten Rußlands anstrebe und vorbehaltlos das
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