Geschichte des Westens
Labour Party war zu sehr der parlamentarischen Demokratie verpflichtet, als daß sie sich mit der Theorie und der Praxis der Leninisten hätte befreunden können. Für das Gros der Labour Party galt das erst recht.
Am 25. November 1917 begannen in Rußland die noch von der Provisorischen Regierung angesetzten Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen gleichen Wahlrechts für Männer. Die Wahlsieger waren die Sozialrevolutionäre, die als einheitliche Partei antraten, obwohl sie dies seit der Abspaltung ihres linken Flügels Anfang November nicht mehr waren. Zählte man die «rechten» Sozialrevolutionäre aus allen Teilen des Reiches zusammen, so kamen sie auf eine absolute Mehrheit der Mandate: 380 voninsgesamt 703 Sitzen. 39 Mitglieder der Konstituante waren den Linken Sozialrevolutionären zuzurechnen. Auf die Bolschewiki entfielen ein knappes Viertel der Stimmen und 168 Abgeordnete. Sehr viel schlechter schnitten die «Kadetten» und die Menschewiki mit 17 beziehungsweise 16 Abgeordneten ab.
Lenin ließ sich von der Niederlage seiner Partei nicht beirren. Er hatte Mehrheit nie in einem «formalen» Sinn verstanden. Für ihn war entscheidend, daß die Bolschewiki ihren Rückhalt im großstädtischen Proletariat behauptet hatten, daß sie als einzige Partei über eine feste Organisation und eine revolutionäre Strategie verfügten und dank ihrer radikalen Antikriegs- und Agrarpolitik einstweilen nicht mit der Gegnerschaft der Masse der armen Bauern zu rechnen hatten.
So lange es irgend ging, schoben die Bolschewiki die konstituierende Sitzung der Verfassunggebenden Versammlung hinaus und agierten so, als habe es die Wahl gar nicht gegeben. Am 27. November entließ der Rat der Volkskommissare ein Dekret über die Arbeiterkontrolle, das, entgegen den Vorstellungen Lenins, vielerorts zur «wilden» Enteignung von Betrieben durch Fabrikkomitees der Arbeiter führte. Am 3. Dezember nahmen revolutionäre Truppen das Hauptquartier der russischen Streitkräfte in Mogilev ein; Generalstabschef Duchonin, der es abgelehnt hatte, irgendwelche Befehle der neuen Machthaber entgegenzunehmen, wurde dabei ermordet. Zwei Tage später, am 5. Dezember, beschlossen die Volkskommissare ein Dekret, das den bisherigen Justizapparat für abgesetzt erklärte und die Wahl neuer Richter durch die Sowjets oder durch Volksabstimmung anordnete. Am 15. Dezember wurden in Brest-Litowsk die Verhandlungen über einen Waffenstillstand abgeschlossen, die zwölf Tage zuvor begonnen hatten. Die Verhandlungen über einen Friedensschluß wurden, ebenfalls in Brest-Litowsk, am 22. Dezember aufgenommen. Die Verhandlungspartner waren wiederum nur die Deutschen und ihre Verbündeten, also Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei, nicht aber, wie die Bolschewiki es angestrebt hatten, die Mittelmächte
und
die Westmächte. Das Ergebnis konnte also nicht ein allgemeiner, sondern nur ein Sonderfriede sein.
Die Waffenruhe erlaubte es den Bolschewiki, ihre innere Machtstellung auszubauen. Ein Dekret über die Demokratisierung der Armee vom 16. Dezember unterstellte alle Truppenteile der Befehlsgewalt des entsprechenden Soldatenkomitees oder Sowjets und ordnete dieAbschaffung aller Rangabzeichen und die Wahl der Offiziere durch die Mannschaften an. Die Armeeorganisation, durch die Massendesertionen nach dem Umsturz ohnehin nachhaltig geschwächt, wurde durch diesen Erlaß faktisch aufgelöst. Es folgten am 15. Dezember die Gründung des Obersten Volkswirtschaftsrates zur Koordinierung der Wirtschaft, am 20. Dezember die Schaffung einer «Außerordentlichen Kommission», der berüchtigten Tscheka, unter Feliks Dzierzyński, einem gebürtigen Polen, und am 27. Dezember das Dekret über die Nationalisierung der Banken. Wäre es nach Lenin gegangen, hätten die verstaatlichten Banken die Oberaufsicht über die noch in Privateigentum befindlichen industriellen Unternehmungen ausgeübt. Das Dekret über die Arbeiterkontrolle vom 27. November und der Tatendrang von örtlichen Sowjets und Fabrikkomitees durchkreuzten dieses staatskapitalistische Konzept: Eine «Sozialisierung von unten» hatte einen massiven Rückgang der Arbeitsdisziplin, der Produktivität und der industriellen Produktion zur Folge.
Die Bodenreform, die vielerorts schon vor der Oktoberrevolution von den Bauern selbst, also «von unten», in Angriff genommen worden war, kam in manchen Teilen Zentralrußlands bereits Ende des Jahres 1917, in anderen
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