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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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polnische Recht auf Selbstbestimmung anerkenne. Tags darauf bestätigte Czernin diese Aussagen schriftlich. Daraufhin setzten sich erst der sozialdemokratische Parteivorstand, dann auch der Arbeiterrat für einen Abbruch des Streiks ein. Es dauerte einige Tage, bis die Arbeiter diesem Aufruf Folge leisteten.
    Die Nachrichten vom österreichischen Streik gaben den Revolutionären Obleuten der Berliner Metallindustrie den Anstoß, ihrerseits den Generalstreik zu proklamieren. Am 28. Januar befanden sich bereits über eine halbe Million Menschen im Ausstand. Allein in Berlin streikten mehrere Hunderttausende Arbeiter der rüstungswichtigen Metallindustrie. Neben den Führern der USPD ließen sich auch prominente Mehrheitssozialdemokraten, unter ihnen die beiden Parteivorsitzenden Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, in den Streikausschuß wählen, um den Ausstand, an dem sich die Gewerkschaften
nicht
beteiligten, möglichst rasch zum Abschluß zu bringen. Am 4. Februar war das Ziel erreicht. Bei längerer Dauer hätte der Streik die militärische Schlagkraft des Reiches bedroht. Entsprechend massiv waren die Gegenmaßnahmen der Militärbehörden, der Polizei und der Justiz: Aktive Streikteilnehmer wurden in großer Zahl verhaftet oder zum Heeresdienst eingezogen.
    Inzwischen waren in Brest-Litowsk die Verhandlungen erneut unterbrochen worden. Am 18. Januar hatte General Hoffmann zusätzlich zu den bisherigen Forderungen die Räumung Livlands und Estlands verlangt und zur Bekräftigung der deutschen Position demonstrativ mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Trotzki reagierte wie zuvorJoffe: Er forderte eine Verhandlungspause und reiste mit seiner Delegation nach Petrograd zurück.
    Dort war am gleichen Tag die Verfassunggebende Versammlung zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammengetreten. Es sollte bei dieser einen Sitzung bleiben. Die Bolschewiki konfrontierten die nichtbolschewistische Mehrheit mit der ultimativen Forderung, alle Staatsgewalt sofort den Sowjets zu übertragen. Nachdem dieser Antrag abgelehnt worden war, verließen die Bolschewiki die Versammlung. Die verbliebenen Abgeordneten beschlossen Dekrete über die Abschaffung des Grundbesitzes und die Einberufung einer Friedenskonferenz; außerdem erklärten sie Rußland feierlich zu einer demokratischen föderativen Republik. Demonstranten, die der Konstituante ihre Sympathie bekunden wollten, wurden von bolschewistischen Elitetruppen unter Einsatz von Schußwaffen aufgehalten; es gab viele Tote und Verwundete. Als die Abgeordneten am nächsten Tag ihre Beratungen fortsetzen wollten, wurde ihnen der Eingang zum Tagungsort, dem Taurischen Palais, durch Soldaten versperrt, die mit Gewehren, Maschinengewehren und zwei Feldartilleriegeschützen bewaffnet waren. Zeitungen, die über die Sitzung vom Vortag berichteten, wurden durch Angehörige bolschewistischer Truppen beschlagnahmt, zerfetzt und verbrannt.
    Die gewaltsame Auflösung der Konstituante entsprach einem Beschluß des Allrussischen Exekutivkomitees der Sowjets. Das einschlägige Dekret hatte Lenin verfaßt. Er behauptete, «jeder Verzicht auf die uneingeschränkte Macht der Sowjets, auf die vom Volk eroberte Sowjetrepublik zugunsten des bürgerlichen Parlamentarismus und der Konstituierenden Versammlung wäre jetzt ein Schritt rückwärts, (er) würde den Zusammenbruch der ganzen Oktoberrevolution der Arbeiter und Bauern bedeuten … Es war daher unvermeidlich, daß die Fraktion der Bolschewiki und der linken Sozialrevolutionäre, die jetzt offenkundig die ungeheure Mehrheit in den Sowjets bilden und das Vertrauen der Arbeiter und der Mehrheit der Bauern genießen, diese Konstituierende Versammlung verließen. Es ist klar, daß der übrig gebliebene Teil der Konstituierenden Versammlung infolgedessen nur die Rolle einer Kulisse spielen könnte, hinter der der Kampf der Konterrevolutionäre für den Sturz der Sowjetmacht vor sich gehen würde.»
    Die Sprengung der Konstituante am 19. Januar 1918 markierte nicht mehr und nicht weniger als den endgültigen Bruch zwischen denBolschewiki und der demokratischen Mehrheit der europäischen Arbeiterbewegung. Die Berufung auf eine höhere Mehrheit als die, die sich in Wahlen äußerte, war die leninistische Variante von Rousseaus Unterscheidung zwischen der wahren «volonté générale» und der demgegenüber unerheblichen «volonté de tous»: ein dialektischer Kunstgriff, dazu bestimmt, der einmal errungenen Macht den Schein einer theoretischen

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