Geschichte des Westens
antirussische Polen durchaus die Rolle eines Juniorpartners einer gegen Moskau gerichteten deutschen Politik übernehmen: eine Perspektive, die vor 1933 ganz undenkbar gewesen wäre.
Vier Tage nach dem Abschluß des deutsch-polnischen Nichtangriffsvertragsjährte sich zum ersten Mal die sogenannte «Machtergreifung». Die Reichsregierung nahm den 30. Januar 1934 zum Anlaß, vom neugewählten Reichstag das verfassungsändernde Gesetz über den Neuaufbau des Reiches beschließen zu lassen. Es hob die Volksvertretungen der Länder auf und übertrug ihre Hoheitsrechte dem Reich. Die Länderregierungen unterstanden fortan der Reichsregierung und die Reichsstatthalter der Dienstaufsicht des Reichsinnenministers. Das schien einen epochalen Einschnitt zu bedeuten: den endgültigen Sieg der unitarischen über die partikularistischen Kräfte.
Tatsächlich dachten die mächtigeren unter den Reichsstatthaltern gar nicht daran, sich bedingungslos Berliner Ministerien unterzuordnen, und da sie immer wieder Hitler für sich gewinnen konnten, war ihre Opposition keineswegs wirkungslos. Hitler war auf seine Endziele fixiert; in Fragen der inneren Staatsordnung hatte er keine klare Konzeption und wich Entscheidungen am liebsten aus. Damit durchkreuzte er wiederholt Tendenzen, die an sich in der «Logik» des Nationalsozialismus lagen – wie etwa die von Reichsinnenminister Frick geforderte systematische Zentralisierung im Sinne des Führerprinzips. Aber in gewisser Weise hatte auch die Inkonsequenz System: Hitlers Politik war mehr auf «Bewegung» als auf «Ordnung» angelegt, und ständige Dynamik war mit der Herausbildung stabiler Strukturen nicht vereinbar. Im übrigen hatten Rivalitäten zwischen seinen Gefolgsleuten auch ihr Gutes:
Er
mußte als Schiedsrichter angerufen werden, und auch wenn er nicht entschied, blieb er doch der Meister des Spiels.
Auch im Verhältnis zu den christlichen Kirchen suchte Hitler sich, wenn es zu Konflikten kam, als über den Dingen stehende letzte Instanz zu präsentieren. Die Regelung der Beziehungen zwischen dem «Dritten Reich» und der katholischen Kirche hatte er weithin Vizekanzler von Papen überlassen. Das Ergebnis war das Konkordat, das am 20. Juli 1933 im Vatikan unterzeichnet wurde und am 10. September 1933 in Kraft trat. Die katholische Kirche durfte ihre inneren Angelegenheiten selbständig ordnen; sie erhielt staatliche Zusicherungen im Hinblick auf die Bekenntnisschulen, den Religionsunterricht und das kirchliche Vereinswesen, darunter die Jugendbünde. Die wichtigste Gegenleistung der Kurie war der Verzicht des Klerus auf politische Betätigung. Damit hatte das Regime einen Etappensieg errungen: Die politische Neutralisierung des Katholizismus war die Grundlage, dieder Nationalsozialismus benötigte, um den weltanschaulichen Einfluß der katholischen Kirche zurückzudrängen.
Im evangelischen Deutschland hatte der Nationalsozialismus schon vor dem 30. Januar 1933 starke Bastionen erobert – unter den Kirchenmitgliedern freilich mehr als in den überwiegend deutschnational gesinnten Kirchenleitungen. Der nationalsozialistischen «Glaubensbewegung Deutsche Christen» (DC), die sich selbst gelegentlich als «SA Jesu Christi» oder «SA der Kirche» bezeichnete, war bei den preußischen Kirchenwahlen vom November 1932 bereits ein Drittel der Sitze zugefallen. Vor den allgemeinen evangelischen Kirchenwahlen im Juli 1933 rief Hitler, nominell immer noch katholisch, von Bayreuth aus, wo er gerade an den Richard-Wagner-Festspielen teilnahm, über den Rundfunk zur Wahl der «Deutschen Christen» auf. Der Appell verfehlte nicht seine Wirkung: Die «DC» errangen eine Zweidrittelmehrheit. Es folgte der Versuch der Machtergreifung in der evangelischen Kirche, der zunächst auf Anhieb zu gelingen schien: Ende September wurde auf der Deutschen Nationalsynode zu Wittenberg der ostpreußische Wehrkreispfarrer Ludwig Müller, ein «Deutscher Christ» und Hitlers persönlicher Berater in Kirchenfragen, in das Amt eines Reichsbischofs der neugegründeten Deutschen Evangelischen Kirche gewählt.
In Wittenberg trat aber erstmals auch eine Gegenbewegung in Erscheinung: der Pfarrernotbund um den Pastor Martin Niemöller aus Berlin-Dahlem, einen ehemaligen U-Boot-Kommandanten und Freikorpskämpfer, den Berliner Privatdozenten Dietrich Bonhoeffer sowie Otto Dibelius, den die «DC» im Juni 1933 aus seinem Amt als Superintendent der Kurmark entfernt hatten. Aus dem Pfarrernotbund erwuchs
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