Geschichte des Westens
im Mai 1943.
Eine Zeitlang schien es seit 1933, als sei die Sowjetunion auch innenpolitisch in eine Phase der Mäßigung und Konsolidierung, einer Art von russischem Thermidor, eingetreten. Im März 1933 erhielten «Kulakenkinder» das Wahlrecht zurück. Im Mai 1934 erging der Beschluß, den ausgesiedelten Großbauern die Bürgerrechte wieder zuzuerkennen,sofern sie ihre Loyalität gegenüber dem Sowjetstaat glaubwürdig bewiesen hatten. Im Juli wurde die OGPU, die Geheimpolizei, formell aufgelöst und mit dem Innenministerium, dem NKWD, verschmolzen. Im Februar 1935 schlugen das Zentralkomitee der KPdSU und der Sowjetkongreß vor, die seit 1934 geltende Verfassung mit dem Ziel der «weiteren Demokratisierung» abzuändern und das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht einzuführen. Im Juni 1936 lag der von einer Kommission erarbeitete Entwurf einer Verfassung vor, der in den folgenden Monaten in zahllosen Versammlungen breit, offen und bemerkenswert kontrovers diskutiert wurde. Dabei trat deutlich zutage, wie mißtrauisch und feindselig große Teile der Landbevölkerung dem Sowjetregime gegenüberstanden.
Am 5. Dezember 1936 nahm der Sowjetkongreß die inzwischen leicht abgeänderte Vorlage an. Die neue Verfassung brachte der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ein direkt und in geheimer Abstimmung gewähltes gemeinsames Parlament, den Obersten Sowjet, der sich in den Unions- und den Nationalitätensowjet gliederte. Der Allrussische Rätekongreß und das Zentrale Exekutivkomitee waren damit abgeschafft. Die Sowjetunion wurde als «sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern» bezeichnet, dessen politische Grundlage die Sowjets der Deputierten der Werktätigen bildeten – «erwachsen und erstarkt im Ergebnis des Sturzes der Macht der Gutsherren und Kapitalisten und der Eroberung der Diktatur des Proletariats». Im Abschnitt über die gesellschaftliche Ordnung wurde die Arbeit als Pflicht und Ehrensache jedes arbeitsfähigen Staatsbürgers bezeichnet, getreu dem Grundsatz «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen». Unter der Überschrift «Grundrechte und Grundpflichten der Staatsbürger» gewährleistete die Verfassung das Recht auf Arbeit, auf Erholung, auf materielle Versorgung im Alter und im Fall von Krankheit, auf Bildung, auf Gewissensfreiheit, auf die Freiheit der Ausübung religiöser Kulthandlungen und der Freiheit antireligiöser Propaganda. Weiter wurden verbürgt die Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die aller Nationalitäten und Rassen, die Unverletzlichkeit der Person und der Wohnung sowie die Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten.
So liberal sich viele Artikel lasen, so enthielt die Verfassung doch auch Vorkehrungen, die deutlich machten, daß die bestehenden Machtverhältnisse in keiner Weise zur Disposition standen. Der Führungsanspruchder Kommunistischen Partei wurde im Artikel 126 festgeschrieben, der die KPdSU als «Vortrupp der Werktätigen in ihrem Kampf um die Festigung und Entwicklung des sozialistischen Systems» und als «führenden Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellschaftlichen wie der staatlichen» bezeichnete. Die Artikel 130 und 131 verpflichteten die Bürger, die Arbeitsdisziplin zu wahren, ihren gesellschaftlichen Pflichten nachzukommen und die Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens einzuhalten sowie das gesellschaftliche Eigentum zu hüten und zu festigen. Wer sich an diesem Eigentum vergriff, wurde zum Volksfeind erklärt. Das Recht, Kandidaten für die Sowjets aufzustellen, war nach Artikel 141 den gesellschaftlichen Organisationen und Vereinigungen der Werktätigen, das heißt der Kommunistischen Partei, den Gewerkschaften, Genossenschaften, Jugendorganisationen und Kulturvereinigungen, vorbehalten. Die Möglichkeit, gegen eine Verletzung der Grundrechte durch Partei- oder Staatsorgane Rechtsmittel einzulegen, gab es nicht. Die Unabhängigkeit der Gerichte stand nur auf dem Papier, was es den Machthabern erlaubte, die Verfassung so auszulegen, wie sie es für richtig hielten.
Die Verfassung von 1936 diente sicherlich auch dem Zweck, das Bemühen der Sowjetunion um bessere Beziehungen mit den westlichen Demokratien glaubwürdig erscheinen zu lassen. Doch für Stalin war vermutlich etwas anderes wichtiger: die dauerhafte, äußerlich rechtsförmige, institutionelle Absicherung dessen, was das Sowjetregime und er selbst in den knapp zwei Jahrzehnten seit
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