Geschichte des Westens
der Oktoberrevolution an gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen hervorgebracht hatten. Zeitweilig schien Stalin sich diesen Effekt auch von der Aufstellung mehrerer Kandidaten für die Wahlen zu den Sowjets versprochen zu haben. Warnungen örtlicher Parteigliederungen, auf diese Weise könnten feindliche Elemente an Einfluß gewinnen, reichten aber aus, um dieses Experiment bereits im Herbst 1937 abzubrechen und zur Scheinwahl von jeweils nur einem Kandidaten zurückzukehren. Was die Realität der Parteidiktatur betraf, erbrachte die Verfassung von 1936 nichts, was sich als historischer Einschnitt deuten ließe.
Nichts erhellte den Fassadencharakter der Verfassung so deutlich wie die Tatsache, daß zur Zeit ihrer Beratung und Verabschiedung längst eine neue Terrorwelle begonnen hatte. Am 1. Dezember 1934 fiel der als relativ «liberal» geltende, in der KPdSU beliebte Parteisekretärvon Leningrad, Sergej Mironowitsch Kirow, den Revolverschüssen eines jüngeren, arbeitslosen Kommunisten zum Opfer. Die örtliche Abteilung des NKWD, Innenkommissar Jagoda und Stalin unterstellten sofort eine antisowjetische Verschwörung, während bei den Gegnern des Generalsekretärs frühzeitig die Vermutung aufkam, Stalin selbst habe den Mord in Auftrag gegeben. Dieser Verdacht drängte sich geradezu auf, da alle Tschekisten, die an der Untersuchung beteiligt waren, einer nach dem anderen und manche auf mysteriöse Weise umgebracht wurden. Beweise für eine mittelbare Täterschaft Stalins aber gibt es nicht.
Der Mord an Kirow war das Signal für eine großangelegte Verfolgung wirklicher oder vermeintlicher Regimefeinde innerhalb oder außerhalb des Parteiapparates. Noch am 1. Dezember 1934 veranlaßte Stalin eine Verordnung, die es dem NKWD gestattete, Verdächtige ohne Gerichtsurteil zu deportieren und zu töten. Eine Weisung des Generalsekretärs schloß bei Strafverfahren mit «terroristischem» Hintergrund eine Verteidigung und Kassationsbeschwerden fortan aus. Verfahren vor dem Militärtribunal des Obersten Gerichts waren am Tag der Anklageerhebung zu beenden, Todesurteile sofort zu vollstrecken. Eine Verordnung vom April 1935 weitete die Anwendung der Todesstrafe auf Jugendliche aus, die das zwölfte Lebensjahr vollendet hatten.
Unmittelbar nach dem Leningrader Attentat wurden Stalins ehemalige Widersacher Sinowjew und Kamenew verhaftet und in einem Geheimprozeß zu zehn Jahren Haft verurteilt. Beiden warf das NKWD eine Beteiligung am Mord an Kirow vor. Dem Prozeß gegen Sinowjew und Kamenew schloß sich eine vom zuständigen ZK-Sekretär und Nachfolger Jagodas als Innenkommissar, Nikolai Jeschow, einem gebürtigen Litauer, geleitete Aktion an, in deren Verlauf Anhänger der beiden Altbolschewiken im ganzen Land sowie Trotzkisten und andere Abweichler aufgespürt, aus der Partei ausgeschlossen und verhaftet wurden. Im Sommer 1935 folgte die Verhaftung von 110 Angestellten des Kreml, denen vorgeworfen wurde, sie hätten im Auftrag von Trotzki und Sinowjew die Festsetzung und Ermordung der Parteiführung vorbereitet.
Ein Jahr später, im Sommer 1936, begann eine Serie von Schauprozessen gegen bekannte ehemalige Parteiführer, zuerst gegen Sinowjew und Kamenew, 1937 auch gegen Bucharin, Rykow, Jagoda und vieleandere. Die Angeklagten hatten vor Gericht keine Chance. Für ihre systematische Einschüchterung sorgte Stalins Chefankläger, Generalstaatsanwalt Wyschinski, der sich in den frühen dreißiger Jahren noch als Befürworter einer relativ unabhängigen Justiz hervorgetan hatte. Mit absurden Beschuldigungen konfrontiert, räumten die meisten der einst führenden Bolschewiki, um vielleicht doch mit dem Leben davonzukommen, die ihnen zur Last gelegten Verbrechen ein. Bucharin erklärte sich allgemein verantwortlich für politische Verbrechen, bestritt aber eine persönliche Mitwirkung. Viele, darunter auch Bucharin, flehten Stalin brieflich um Gnade an (und sei es, so Bucharin in seinem letzten Brief vom 10. Dezember 1937, um die Zustimmung zur Selbsttötung durch Morphium statt Erschießung) und versicherten ihn ihrer unverbrüchlichen Treue und Zuneigung – vergeblich.
Die meisten Schauprozesse endeten mit Todesurteilen und der Hinrichtung der Angeklagten. Nur wenige wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Einer von ihnen war der ehemalige Deutschlandexperte der Komintern, Karl Radek, der 1939 in der Lagerhaft starb. Beträchtlich war die Zahl der führenden Bolschewiki, die sich, durch den Terror in
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