Geschichte des Westens
Teil der deutschen Juden verfügte. Und auch von den vermögenden Juden hielt einstweilen nur eine Minderheit die Lage in Deutschland für so bedrohlich, daß sich ihr der Gedanke an Emigration aufdrängte. In den Jahren 1933 bis 1937 verließen etwa 129.000 von insgesamt 525.000 Juden Deutschland, die meisten davon in Richtung Westeuropa.
Im Frühjahr 1935 verstärkte sich wieder der antisemitische Druck von «unten», wobei vor allem nationalsozialistische Mittelständler in Erscheinung traten, die sich durch spontane Aktionen wie Überfälle auf jüdische Läden unliebsamer Konkurrenten zu entledigen versuchten. Die wirtschaftlichen Schäden waren beträchtlich, und das negative Echo im Ausland war so massiv, daß sich das Regime, auf Betreiben vor allem des «bürgerlichen» Hjalmar Schacht, der seit dem August 1934 zusätzlich zum Amt des Reichsbankpräsidenten auch das des Reichswirtschaftsministers bekleidete, im August 1935 zu einer legalistischen Kanalisierung des Protests entschloß.
Das Ergebnis waren die «Nürnberger Gesetze», die der Reichstag am 15. September 1935, während des Reichsparteitags der NSDAP und an dessen Tagungsort, verabschiedete. Das Reichsflaggengesetz beseitigte das im März 1933 eingeführte Nebeneinander der Hakenkreuzfahne und der schwarz-weiß-roten Flagge des Kaiserreichs zugunsten des nationalsozialistischen Symbols, das nun zur alleinigen Nationalfahne erklärt wurde. Das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre verbot Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder «artverwandten» Blutes; es untersagte überdies Juden, «arische» Hausangestellte weiblichen Geschlechts unter 45 Jahren zu beschäftigen und die Hakenkreuzfahne zu hissen. Das Reichsbürgergesetz definierte den Begriff des «Staatsangehörigen» und schuf für die «arischen» Deutschen die Rechtsfigur des Reichsbürgers. Nur Reichsbürger hatten die vollen politischen Rechte wie das Wahlrecht; die bloßen Staatsangehörigen wurden auf den Status von geduldeten Gästen herabgedrückt.
Hitler wählte von den vier Entwürfen des Staatsbürgergesetzes, die ihm vorgelegt wurden, den «mildesten» aus, strich aber die einschränkende Bestimmung, wonach das Gesetz nur für «Volljuden» galt. Die Folge war, daß auf dem Verordnungsweg festgelegt werden mußte, wer «Volljude», wer «Mischling ersten und zweiten Grades», wer «Geltungsjude», wer «Deutschblütiger» war – und welche Konsequenzen sich für die nicht rein «Deutschblütigen» ergaben. Die Rolle des obersten Schiedsrichters in Zweifelsfällen behielt sich Hitler selbst vor.
Die «Nürnberger Gesetze» hoben die Judenemanzipation auf und reduzierten das Deutschsein auf eine Frage der Biologie. Die Kampfansage an die Kultur war offenkundig und traf in Deutschland doch nicht selten auf Zustimmung. Die Beschränkung des jüdischen Einflussesauf dem Gesetzesweg wurde eher akzeptiert als wilde Aktionen gegen die Juden. In einem amtlichen Bericht aus Berlin hieß es, nach Jahren des Kampfes zwischen Deutschtum und Judentum seien nun «endlich klare Verhältnisse geschaffen», was «überall große Befriedigung und Begeisterung im Volke» ausgelöst habe. In Koblenz gab es «Genugtuung», weil das Blutschutzgesetz «mehr als die unerfreulichen Einzelaktionen die erwünschte Isolierung des Judentums herbeiführen» werde. Die Vertrauensleute der Sozialdemokratie sprachen hingegen von Ablehnung der Judengesetze in Arbeiterschaft und Bürgertum, ja «bis weit in nationalsozialistische Kreise hinein». Mindestens ebenso häufig wie die Entrechtung der Juden wurde freilich dieser Quelle zufolge die Verdrängung der kaiserlichen Flagge durch das Hakenkreuz kritisiert – also dasjenige der «Nürnberger Gesetze», das auch nach Meinung der offiziellen Berichterstatter eher unpopulär war.
Äußerlich trat nach den «Nürnberger Gesetzen» eine gewisse Beruhigung ein. 1936 war das Jahr der Olympischen Spiele in Garmisch-Partenkirchen und Berlin, und aus diesem Anlaß wollte die nationalsozialistische Führung der Welt ein freundliches Bild von Deutschland vermitteln. Als am 5. Februar der jüdische Medizinstudent David Frankfurter den Landesgruppenleiter der Auslandsorganisation der NSDAP in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, erschoß, unterband das Regime alle antisemitischen Kundgebungen und Aktionen: Am Tag darauf begannen die Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen.
Zwei Monate nach der
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