Geschichte des Westens
Saarabstimmung tat Hitler einen Schritt, der zu den wichtigsten Stationen auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg gehört: Am 16. März 1935 ordnete er die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht an. Der «Führer und Reichskanzler» brach damit offen den Vertrag von Versailles, der Deutschland auf ein Berufsheer von 100.000 Mann festgelegt hatte. Die neue Wehrmacht sollte eine Friedensstärke von 36 Divisionen und 550.000 Mann besitzen.
Die europäischen Siegermächte, darunter zunächst auch Italien, begnügten sich mit papiernen Protesten; Großbritannien hatte nicht einmal Bedenken, nur drei Monate später, am 18. Juni 1935, ein Flottenabkommen mit Deutschland abzuschließen, in dem es sich mit einer Stärke der deutschen Kriegsmarine in einem Verhältnis von 35 zu 100 der britischen einverstanden erklärte. Hitler fühlte sich daherermutigt, im folgenden Jahr zum nächsten, diesmal endgültigen Schlag gegen das System von Versailles und Locarno auszuholen: Am 7. März 1936 kündigte er die Locarnoverträge faktisch auf und ließ, um die militärische Souveränität des Reiches wiederherzustellen, die entmilitarisierte Zone des Rheinlands besetzen. Wäre Frankreich den einmarschierenden deutschen Truppen mit Waffengewalt entgegengetreten, hätte sich die Wehrmacht weisungsgemäß zurückziehen müssen – eine unvorstellbare Blamage für Hitler. Doch Frankreich war nicht kriegsbereit, und Großbritannien noch viel weniger. Zudem hatte Paris sich kurz zuvor nach dem Beginn des Krieges in Abessinien harten Sanktionen gegenüber Italien verweigert und damit die Glaubwürdigkeit des Westens insgesamt erschüttert. Daß die Weltöffentlichkeit sich Anfang 1936 nicht mit Deutschland, sondern mit Italien beschäftigte, kam Hitler überaus gelegen. Es war eine Chance, die er nicht ungenutzt vorübergehen lassen wollte.
Flankiert wurde die Rheinlandbesetzung durch einen propagandistischen Vorstoß Hitlers: In einer Rundfunkrede und in einem Memorandum schlug er den Signatarmächten der Locarnoverträge eine umfassende vertragliche Neuregelung vor. Mit Frankreich und Belgien wollte er Nichtangriffspakte schließen, die auf die Dauer von 25 Jahren gelten und von Großbritannien und Italien garantiert werden sollten. England versuchte er mit einem Luftpakt zu ködern, und falls der Westen auf sein Angebot einging, stellte er sogar eine Rückkehr in den Völkerbund in Aussicht. Die Rheinlandkrise endete so, wie Hitler es erhofft hatte: Der Völkerbund beließ es bei einer Verurteilung Deutschlands wegen Verletzung des Versailler Vertrags, verhängte aber keine Sanktionen. Frankreich, Belgien und Großbritannien garantierten sich wechselseitig ihre Territorien für den Fall, daß eines der Länder von Deutschland angegriffen werden sollte.
In Deutschland ließ der Erfolg des Überraschungsschlags die Popularität des «Führers» gewaltig ansteigen. Diesem bot der Prestigegewinn eine willkommene Gelegenheit, sich seine Macht plebiszitär bestätigen zu lassen: Bei den kurzfristig anberaumten Reichstagswahlen vom 29. März 1936, an denen die Juden nicht mehr teilnehmen durften und örtliche Wahlvorstände die Ergebnisse im Bedarfsfall kräftig nach oben korrigierten, stimmten 98,8 Prozent für die «Liste des Führers». Hitler schien nun selbst von seiner eigenen Unfehlbarkeit überzeugt, ja, wie der britische Historiker Ian Kershaw bemerkt, «einGläubiger seines Mythos» geworden zu sein. Wenn er in der bisher gefährlichsten außenpolitischen Krise des «Dritten Reiches», der Rheinlandbesetzung, mit seiner Politik der vollendeten Tatsachen Erfolg gehabt und aller Welt gezeigt hatte, daß die westlichen Demokratien und der Völkerbund zu entschlossenem Handeln nicht fähig waren – was konnte ihm da noch künftig mißlingen? Auf dem «Parteitag der Ehre» sprach er im September 1936 in der Pose des nationalen Erlösers von der mystischen Einheit zwischen sich und dem Volk: «Das ist das Wunder unserer Zeit, daß ihr mich gefunden habt (brausende Heilrufe!), daß ihr mich gefunden habt unter so vielen Millionen! Und daß ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück!»
Zur Beliebtheit Hitlers trug wesentlich auch der starke Rückgang der Arbeitslosigkeit bei: Zwischen 1935 und 1936 fiel die Zahl der Erwerbslosen von 2,1 auf 1,6 Millionen, was einer Minderung von 11,6 auf 8,3 Prozent entsprach. (In den USA lag die Arbeitslosigkeit 1936 noch bei 16,9 Prozent.) Als der britische Ökonom John Maynard
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