Geschichte des Westens
Demonstration für notwendig hielten, befürwortete kein einziges Mitglied der Regierung. Ein solcher Schritt hätte womöglich schwere Unruhen ausgelöst, was wenige Wochen vor der Parlamentswahl als ein unkalkulierbares Risiko erschien. Von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken bildete sich daher rasch ein breiter Konsens heraus: Frankreich mußte alles vermeiden, was die Gefahr eines europäischen Krieges heraufbeschwören konnte.
Die Linke zog sehr viel geschlossener als die Mitte und die Rechte in den Wahlkampf, und das zahlte sich aus: Die Volksfront ging als eindeutige Siegerin aus den beiden Wahlgängen am 26. April und 3. Mai 1936 hervor. Bei den Stichwahlen wurde der jeweils erfolgreichste Kandidat der linken Parteien, der SFIO, des PCF und der kleinen Union Socialiste Républicaine, von den Anhängern der anderen Partner des Wahlbündnisses diszipliniert unterstützt, so daß der Front populaire am Ende auf 369 Sitze kam, während auf die Parteien der Mitte und der Rechten 236 Mandate entfielen. Insgesamt hatten 5,13 Millionen für die Linke und 4,3 Millionen für die Rechte im weitesten Sinn gestimmt. Die größten Gewinne verbuchten die Kommunisten, denen es mit ihrer patriotischen Linie gelang, in neue Wählergruppen einzudringen: Gegenüber 1932 gewannen sie fast 700.000Stimmen hinzu und erreichten jetzt knapp 1,5 Millionen Stimmen, wohingegen die Sozialisten geringfügige, die Radicaux starke Verluste hinnehmen mußten (–37.000 beziehungsweise –360.000 Stimmen). Die Rechte büßte gegenüber der vorangegangenen Wahl 84.000 Stimmen ein. Stärkste Fraktion wurde erstmals die SFIO mit 146 Abgeordneten, gefolgt von den Radikalsozialisten mit 115 und den Kommunisten mit 72 Deputierten.
Für die Führung der Regierung kam nach dem Wahlausgang nur
eine
Partei in Frage, die Sozialisten, und für das Amt des Ministerpräsidenten nur
ein
Politiker, der Fraktionsvorsitzende der SFIO, Léon Blum. Der Sieg der Volksfront bedeutete aus seiner Sicht zwar noch längst nicht, daß die Stunde der Eroberung der Macht (conquête du pouvoir) durch das Proletariat geschlagen hatte, wohl aber waren erstmals die Bedingungen für eine Ausübung der Macht (exercice du pouvoir) im Rahmen des kapitalistischen Systems gegeben, die über die bloße Beteiligung an einer bürgerlich geführten Koalitionsregierung (participation ministérielle) hinausging. Eine derartige Koalitionspolitik hatte Blum, seit er der faktische Parteiführer der SFIO war, seit dem legendären Parteitag von Tours im Dezember 1920 also, immer wieder abgelehnt, weil sie zur ideologischen «confusion» führen müsse. Wahlkampfabsprachen mit den Radicaux und die parlamentarische Unterstützung einer linksbürgerlichen Regierung waren etwas anderes, da sie nicht mit der Gefahr der «Verwirrung» verbunden waren, und deshalb hatte die SFIO, wann immer es möglich war, solche Vereinbarungen getroffen. Jetzt aber, wo sie die stärkste Fraktion und Sozialisten und Kommunisten zusammen sehr viel stärker waren als die Radicaux, erschien die Übernahme der Regierungsverantwortung nicht nur vertretbar, sondern politisch unbedingt geboten.
Der Verfassung entsprechend, konnte eine neue Regierung erst gebildet werden, nachdem die neue Kammer zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammengetreten war. Traditionsgemäß geschah dies etwa vier Wochen nach der Wahl. In der Zeit zwischen der Wahl und der Ernennung der ersten Volksfrontregierung erlebte Frankreich die größte Welle von Streiks und Unruhen in seiner bisherigen Geschichte. Zu den ersten Ausständen kam es am 11. Mai, gut eine Woche nach der Kammerwahl, in Le Havre und Toulouse. Drei Tage später griffen die Streiks auf Paris, und hier vor allem auf die Metallindustrie, über. Doch es blieb nicht bei Arbeitsniederlegungen: Überall im Land wurdenFabriken besetzt, die von den Streikenden als Faustpfänder für die Erfüllung ihrer Forderungen nach höheren Löhnen, kürzeren Arbeitszeiten und nach besseren Arbeitsplatzbedingungen, vor allem im Bereich von Hygiene und Sicherheit, betrachtet wurden. René Rémond hat die «cahiers de revendications», in denen die Streikenden ihre Beschwerden zusammenfaßten, mit den «cahiers de doléances» von 1789 verglichen. Doch «revolutionär» war ihr Charakter nicht. Was die Arbeiter verlangten, lief auf soziale Reformen hinaus, die in vielen anderen Ländern, obenan den skandinavischen, längst verwirklicht waren.
Die Aktionen waren weitgehend
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