Geschichte des Westens
eindrucksvollste Leistung aller Kabinettsmitglieder erbrachte Außenminister Louis Barthou, der der konservativen Alliance Démocratique angehörte. Barthou, Jahrgang 1862, sprach fließend deutsch. Er liebte die deutsche Kultur und vor allem das musikalische Werk von Richard Wagner. Im Sinne der alten französischen Unterscheidung zwischen den «deux Allemagnes», dem geistig-literarischen und dem machtpolitischen, stand er jedoch der deutschen Politik seit jeher scharf kritisch gegenüber; nach dem Ersten Weltkrieg trat er für die Auflösung des Deutschen Reiches ein. Als wohl einziger französischer Politiker hatte er «Mein Kampf» im deutschen Original gelesen. Entsprechend gering war seine Bereitschaft, sich von den Friedensbeteuerungen Hitlers täuschen zu lassen.
Barthous übergeordnetes Ziel war die politische Isolierung Deutschlands. Deswegen arbeitete er auf einen «Ostpakt» (oder ein «Ost-Locarno») unter Beteiligung der Sowjetunion hin, das Polen und die Staaten der «Kleinen Entente», also die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien, vor dem deutschen Hegemonie- und Expansionsstreben schützen sollte. Auch Deutschland wurde aufgefordert, diesem neuen Sicherheitssystem beizutreten, obwohl Barthou zurecht davon ausging, daß Berlin diesen Vorschlag zurückweisen würde. Außerdem bemühte er sich, das faschistische Italien wieder enger an Frankreich zu binden und damit eine von Hitler umworbene Macht in eine Stellung gegen das Deutsche Reich zu bringen.
Um seinen großen Plan zu verwirklichen, entfaltete Barthou eine rege Reisetätigkeit. Er begab sich im April 1934 nach Polen und im Juni nach Rumänien und Jugoslawien (wobei er in Warschau in den Gesprächen mit Marschall Pilsudski auf starke Vorbehalte gegenüber einer bündnispolitischen Verbindung mit der Sowjetunion stieß). Im Mai verhandelte er in Genf mit dem sowjetischen Außenminister Litwinow und legte in diesen Gesprächen den Grund für den späteren französisch-sowjetischen Beistandspakt. Dessen Unterzeichnung am 2. Mai 1935 sollte Barthou nicht mehr erleben. Am 9. Oktober 1934 wurde er zusammen mit König Alexander I. von Jugoslawien in Marseille von einem kroatischen Nationalisten ermordet. Die Amtszeit des neben Briand bedeutendsten Außenministers der Zwischenkriegszeit fand damit nach nur sieben Monaten ein tragisches Ende.
Das Attentat von Marseille wäre bei wirksameren Sicherheitsvorkehrungen der französischen Polizei zu verhindern gewesen: ein Sachverhalt, den Innenminister Sarraut am 11. Oktober mit seinem Rücktritt bezahlen mußte. Zwei Tage später sah sich Justizminister Henri Chéron genötigt, sein Amt aufzugeben: Seine Verwicklung in den Stavisky-Skandal machte sein Verbleiben im Kabinett unmöglich. Die Nachfolge Barthous als Außenminister trat am 13. Oktober Pierre Laval an, einer der wendigsten Politiker, die Frankreich je erlebt hat. Anders als Barthou war er im Hinblick auf Deutschland von Anfang an überaus kompromissbereit. Das zeigte sich unter anderem darin, daß er auf jede profranzösische Propaganda im Saargebiet vor der Abstimmung im Januar 1935 verzichtete. Wenige Wochen nach der Ernennung Lavals am 8. November, verließen Herriot und die anderen Minister der Radicaux aus Protest gegen die Verfassungspläne Doumergues und Tardieus das Kabinett. Damit hatte die Regierung Doumergue ihre parlamentarische Mehrheit verloren, so daß dem Ministerpräsidenten nichts anderes übrigblieb, als zu demissionieren.
Die Nachfolge Doumergues trat am 9. November 1934 Pierre-Étienne Flandin, ein Politiker aus den Reihen der Alliance Démocratique, an; das Außenministerium behielt Pierre Laval. Die neue Regierung versuchte der Wirtschafts- und Finanzkrise mit denselben deflatorischen Mitteln wie die früheren Kabinette Herr zu werden, und war dabei nicht erfolgreicher als diese. Die Militärdienstpflicht wurde, weil inzwischen die geburtenschwachen Kriegsjahrgänge die Rekruten stellten, gegen die vehementen Proteste von Sozialisten und Kommunisten am 15. März 1935 von ein auf zwei Jahre verlängert (was Hitler einen Tag später als Vorwand für die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland benutzte). Einzelne Politiker wie Paul Reynaud forderten, entsprechend dem Plädoyer eines publizistisch aktiven Militärexperten, Oberst Charles de Gaulle, des Autors des 1934 erschienenen, vielbeachteten Buches «Vers l’armée de métier», den Aufbau einer zu offensiver Kriegführung
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