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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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spontan; weder die CGT noch der PCF hatten sie organisiert; eine aktive Rolle spielten hingegen, wo es sie noch gab, anarchosyndikalistische Gewerkschafter, Trotzkisten und Kräfte auf dem äußersten linken Flügel der SFIO um Marceau Pivert, dem Mann an der Spitze des Parteibezirks Paris und Umgebung, der Fédération de la Seine, der am 27. Mai im sozialistischen «Populaire» die Parole ausgab: «Alles ist möglich» (Tout est possible). Die «Humanité» hielt es zwei Tage später für angebracht, dem revolutionären Überschwang entgegenzutreten. «Nicht alles ist möglich» (Tout n’est pas possible) lautete die Schlagzeile des kommunistischen Parteiorgans. Anfang Juni setzte eine zweite Streikwelle ein. Mit 12.000 Streiks und 1,8 Millionen Streikenden erreicht die Ausstandsbewegung im Juni ihren Höhepunkt.
    Große Teile des Bürgertums reagierten auf die Ereignisse vom Mai und Juni 1936 mit einer Angst vor der roten Revolution, wie es sie seit der Pariser Kommune von 1871 nicht mehr gegeben hatte. Eine massive Kapitalflucht ins Ausland war die Folge: Die Banque de France verlor innerhalb eines Monats 1,5 Milliarden Franc. Der Historiker Charles Bloch beschreibt die «bourgeoise» Stimmungslage jener Wochen mit den Worten: «Man zog eine Parallele zwischen der Streikbewegung und den Vorgängen in Rußland 1917 oder in Italien 1919/20, wo die revolutionären Arbeiter und Bauern ebenfalls die Fabriken beziehungsweise die Latifundien besetzt hatten. Man übersah den wesentlichen Unterschied, daß dort die wirklich revolutionären Massen die Enteignung der Großgrundbesitzer und Industriellen angestrebt hatten, während die französischen Arbeiter nur eine friedliche Besetzung der Betriebe vornahmen, um sie als Pfand bis zur Einführung von Reformen zu behalten, ohne – zumindest vorläufig – das Prinzip deskapitalistischen Wirtschaftssystems in Frage zu stellen.» Bloch schlägt einen Bogen vom Frühsommer 1936 ins Jahr 1940: Auf der Suche nach einem «Retter vor der kommunistischen Gefahr» hätten Teile der französischen Bourgeoisie sogar auf das «Dritte Reich» geblickt. «Vielleicht mehr als jedes andere Ereignis schufen die Vorgänge vom Mai/Juni 1936 die Mentalität, die 1940 zur Akzeptierung der deutschen Besetzung und zur Billigung des autoritären Regimes von Marschall Pétain führen sollte.»
    Die Regierung, die bis zum 4. Juni 1936 die Verantwortung für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung trug, war das Kabinett Sarraut. Auf Drängen der Kommunisten verzichtete die Regierung auf alles, was die gespannte Lage hätte verschärfen können; deswegen gab es keinerlei Polizeieinsätze gegen die Streikenden und zur Räumung besetzter Fabriken. Die Kommunisten selbst entschieden sich währenddessen, das Angebot Blums, in ein von ihm geführtes Kabinett einzutreten, nicht anzunehmen. Am 14. Mai erklärte der PCF, die Kommunisten seien überzeugt, daß sie, wenn sie loyal, ohne Vorbehalte und Hintertüren, eine von den Sozialisten geführte Regierung unterstützten, der Sache des Volkes besser dienten, als dadurch, «daß sie, durch ihre Anwesenheit im Kabinett, den Vorwand für Panik- und Verwirrungskampagnen der Feinde des Volkes (campagnes de panique et d’affolement des ennemies du peuple) liefern».
    Die Begründung für das Nein zur Regierungsbeteiligung war vermutlich nicht einmal vorgeschoben. Nicht zuletzt außenpolitische Erwägungen sprachen für diese Entscheidung: Kommunistische Minister hätten, weil sie die Bourgeoisie verschrecken mußten, die von Moskau dringend gewünschte enge Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der Sowjetunion erschwert. Eine andere Überlegung dürfte ebenfalls eine Rolle gespielt haben: Da die Regierung der Volksfront nur eine reformistische und keine revolutionäre Politik betreiben konnte und sollte, war ein Eintritt des PCF in das Kabinett nicht nur nicht erforderlich, sondern eher schädlich. Den Kommunisten fiel es als bloß tolerierende Partei leichter, nicht die unmittelbare Verantwortung für Entscheidungen übernehmen zu müssen, von denen sie sicher war, daß sie weit hinter den Erwartungen vieler, wenn nicht der meisten ihrer Anhänger zurückbleiben würden. Daß die Taktik des PCF von einem Teil der Massen honoriert wurde, zeigt auch das Wachstum der Mitgliederzahlen: Sie stiegen von 50.000 im Jahr 1933 bis auf 280.000 Ende 1936 an.
    Am Abend des 4. Juni, wenige Stunden nach der konstituierenden Sitzung der Deputiertenkammer,

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