Geschichte des Westens
konnte Léon Blum sein Kabinett dem Präsidenten der Republik, Albert Lebrun, vorstellen. Außenminister war der Radikalsozialist Yvon Delbos, Innenminister der Sozialist Roger Salengro, der wenige Monate später, von der extremen Rechten mit der falschen Beschuldigung, er sei 1915 desertiert und zum Feind übergelaufen, in den Selbstmord getrieben wurde. (Seine Nachfolge trat im November 1936 der Sozialist Marx Dormoy an). Der Radikalsozialist Édouard Daladier übernahm das Verteidigungs-, der Sozialist Vincent Auriol, der Staatspräsident der Jahre 1947 bis 1954, das Finanzministerium. Der SFIO gehörte auch Charles Spinasse, der erste sozialistische Wirtschaftsminister der Dritten Republik, an. Sensationell wirkte angesichts der Tatsache, daß die Frauen in Frankreich noch immer nicht über das Wahlrecht verfügten, die Berufung von drei weiblichen Unterstaatssekretären: der Feministin Cécile Brunschvicg für Unterricht, der sozialistischen Lehrerin Suzanne Lacorre für den Schutz von Kindern und Jugendlichen und der Physikerin Irène Joliot-Curie für wissenschaftliche Forschung. Erstmals gab es im Kabinett Blum auch Unterstaatssekretäre für Freizeit und für körperliche Erziehung sowie Sport.
Die erste große Herausforderung der Volksfrontregierung war die Beendigung der Streiks und Fabrikbesetzungen. Am 7. Juni trat eine von Blum einberufene Konferenz der Spitzenverbände von Unternehmern und Arbeitnehmern, der Confédération Générale de la Production Française und der Confédération Générale du Travail, im Hôtel Matignon, seit 1935 Amtssitz des Ministerpräsidenten, zusammen. Noch in der Nacht zum 8. Juni unterzeichneten die Verhandlungspartner den «Accord Matignon». Sein Inhalt ähnelte in mancher Hinsicht dem, was 18 Jahre zuvor, im November 1918, im Rahmen der Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeberund Arbeitnehmerverbände Deutschlands, vereinbart worden war. Die Kernpunkte betrafen die sofortige Einführung kollektiver Tarifverträge (die bisher, obwohl es das Instrument als solches schon seit 1919 gab, nur für eine kleine Minderheit der Arbeitnehmer galten), die Freiheit der gewerkschaftlichen Organisation und Betätigung, die Wahl von Arbeiterdelegierten in den Betrieben und eine allgemeine Lohnerhöhung um 7 bis 15, im Durchschnitt um 12 Prozent. Die Themen Vierzig-Stunden-Woche und bezahlter Urlaub wurden an das Parlament verwiesen. Die Arbeiter sollten die besetzten Fabriken räumenund die Arbeit wieder aufnehmen; Sanktionen gegen sie sollten nicht ergriffen werden.
Der «Accord Matignon» bedeutete noch nicht das Ende der Streiks und der Fabrikbesetzungen. Trotz aller Appelle Blums und des Vorsitzenden der CGT, Léon Jouhaux, weigerten sich die Arbeiter vielerorts, ihre Faustpfänder aufzugeben. Erst als Thorez am 11. Juni namens der Kommunisten zur Einstellung der Kampfaktionen aufrief, bröckelte die Streikfront spürbar. Aber noch im Juli wurden 1688 Streiks und 176.947 Streikende gezählt.
Die Konferenz im Hôtel Matignon hatte sich auf das beschränkt, was Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter sich regeln konnten. Den großen sozialpolitischen Nachholbedarf der Dritten Republik zu befriedigen blieb Regierung und Parlament überlassen. Noch im Juni legte Blum die ersten grundlegenden Gesetze vor: Sie brachten den Arbeitnehmern das Recht auf einen bezahlten zweiwöchigen Jahresurlaub, die Senkung der wöchentlichen Arbeitszeit von 48 auf 40 Stunden (wobei möglichst an fünf Tagen jeweils acht Stunden lang gearbeitet werden sollte), die gesetzliche Verankerung kollektiv ausgehandelter Tarifverträge und die Anhebung der Gehälter und Pensionen der Beamten.
Es folgten, noch im Sommer 1936, Gesetze über das Verbot der Kinderarbeit, wobei die Landwirtschaft ausgenommen wurde, die Verlängerung des obligatorischen Schulunterrichts bis zum Alter von 14 Jahren, die Verstaatlichung der Rüstungsbetriebe, ein großangelegtes Programm zur öffentlichen Arbeitsbeschaffung, der Ausbau der Invalidenrenten und der Familienbeihilfen, eine gründliche Reorganisation der Banque de France, die enger als bisher an die Staatsmacht angebunden wurde und, um ihren Charakter als Nationalbank zu unterstreichen, in Banque de la France umbenannt wurde, die Einrichtung einer staatlichen Getreidestelle, des Office National Interprofessionel du Blé, das Produktion, Verkauf und Preise regeln sollte und ein Ein- und Ausfuhrmonopol besaß. Im Dezember 1936 schloß
Weitere Kostenlose Bücher