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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Virginia und teilte die Vorurteile des amerikanischen Südens gegenüber den Schwarzen. Wie die meisten Amerikaner und Europäer hielt er letztlich nur die weißen Völker für wirklich «zivilisiert». Zu einem glaubwürdigen Anwalt der Befreiung der Kolonialvölker konnte er angesichts solcher Prägungen nicht werden.
    All das nahm der Rede aber nicht ihren weltgeschichtlichen Rang. Der Präsident steigerte die Brisanz der «Vierzehn Punkte» noch, als er am 11. Februar 1918 in einer weiteren Botschaft an den Kongreß die zündende, aber nicht näher definierte Parole von der «Selbstbestimmung» (self-determination) ausgab. Zu Ende gedacht, lief Wilsons Vision einer befriedeten Welt sich selbst regierender Nationen, eine an Thomas Paines «Common Sense» und Immanuel Kants Schrift «Zum ewigen Frieden» erinnernde Zielvorstellung, auf eine Infragestellungdes (mit fragwürdigem Recht so genannten) «Westfälischen Systems» hinaus, das unter Berufung auf die Souveränität der Staaten Einmischungen in deren innere Angelegenheiten untersagte. Sie war zugleich eine Antwort auf Lenins revolutionäre Variante des Selbstbestimmungsrechts der Völker und konnte leicht, obgleich Wilson unter «self-determination» nichts anderes als «self-government», also innenpolitische Selbstregierung, verstand, als Propagierung eines Rechts «zivilisierter» Völker auf Sezession und Eigenstaatlichkeit gedeutet werden. Ihre die alte Ordnung sprengende Kraft entfalteten die Vierzehn Punkte und die Botschaft vom 11. Februar bereits 1918: zum einen bei den europäischen Völkern, die nach staatlicher Unabhängigkeit strebten, obenan den Polen, den Tschechen und den Südslawen des Habsburgerreiches, zum anderen bei den Kräften, die auf eine Demokratisierung des deutschen Kaiserreiches hinarbeiteten.
    In Berlin wurden die «Vierzehn Punkte» völlig zu Recht als Aufruf zu einer demokratischen Umwälzung in Deutschland interpretiert. Entsprechend negativ fielen die Reaktionen der deutschen Rechten, aber auch der Reichsleitung aus. Am 24. Januar 1918 erteilte Reichskanzler Graf Hertling im Hauptausschuß des Reichstags den an die deutsche Adresse gerichteten konkreten Forderungen des amerikanischen Präsidenten eine klare Absage. Die Neuordnung im Osten gehe allein Rußland und die Mittelmächte an; eine «gewaltsame Angliederung Belgiens» habe nie einen Programmpunkt der deutschen Politik gebildet; irgendwelche Gebietsverzichte Deutschlands, ob im Westen oder im Osten, lehnte der Kanzler rundweg ab. Was die Freiheit der Meere betraf, machte Hertling sie von einem britischen Verzicht auf Gibraltar, Malta, Aden, Hongkong, die Falklandinseln und anderen Stützpunkten abhängig.
    In Frankreich waren die Sozialisten dankbar für die Offenlegung der amerikanischen Kriegs- oder besser Friedensziele. Die beharrliche Weigerung von Ministerpräsident Clemenceau, die französischen Kriegsziele zu präzisieren, vertiefte den Gegensatz zwischen Regierung und Opposition; die SFIO wurde in Frankreich zur eigentlichen «Wilson-Partei» (so wie sich in Deutschland dasselbe von der gemäßigten Mehrheit der USPD und in England von der Labour Party sagen ließ). Die starre Haltung des Regierungschefs erklärte sich nicht nur aus seiner Entschlossenheit, Elsaß-Lothringen
ohne
Volksabstimmung an Frankreich zurückzugliedern (worauf sich bisherweder Wilson noch Lloyd George noch die französischen Sozialisten festgelegt hatten). Clemenceau hatte auch nicht das geringste Interesse daran, öffentlich über seine weitergehenden, von Generalstabschef Joffre unterstützten Forderungen im Hinblick auf das Saargebiet und das Rheinland zu sprechen. Ebenso entschieden weigerte sich die italienische Regierung unter Ministerpräsident Orlando und Außenminister Sonnino, ihre Kriegsziele zu erläutern: Zu offenkundig war der Widerspruch zwischen Wilsons Bekenntnis zum Nationalitätsprinzip und ihrem Beharren auf der Brennergrenze, auf Istrien und großen Teilen von Dalmatien.
    Vittorio Emanuele Orlando war der seit Oktober 1917 amtierende Nachfolger Paolo Bosellis, unter dessen Regierung auch die beiden Reformsozialisten Leonida Bissolati und Ivanoe Bonomi Ministerposten übernommen hatten. Bissolati war der beredteste Sprecher der «Demokratischen Interventionisten», die sich im Sinne Wilsons zum Selbstbestimmungsrecht der Völker bekannten, die Forderung nach der Annexion deutsch-, slawisch- oder griechischsprachiger Gebiete also ablehnten. Orlando näherte

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