Geschichte des Westens
schon 1905 die «Jakobiner der modernen Sozialdemokratie» genannt hatte, entschlossen, ungleich härter und konsequenter gegen ihre Feinde vorzugehen als ihr historisches Vorbild. Sie glaubten sich dazu auch deswegen berechtigt und verpflichtet, weil, gemessen an den jeweiligen zeitgenössischen Maßstäben, Rußland 1917/18 um vieles rückständiger war als Frankreich 1793/94 – so rückständig, daß sich ein Ende des Terrors gar nicht absehen ließ. Die Schreckensherrschaft der Jakobiner hatte die Ideen von 1789 nicht dauerhaft verdunkeln können. Die russische Revolution von 1905 und die Februarrevolution von 1917 hatten keine Ideen hervorgebracht, die die des Oktober 1917 hätten überstrahlen können. Der Terror der Bolschewiki, der Träger dieser Ideen, war von Anfang an ein Teil ihres Projekts: des bisher radikalsten Gegenentwurfs zum normativen Projekt des Westens.[ 8 ]
Freiheit für die zivilisierten Völker:
Wilsons neue Weltordnung
Für die Westmächte bedeutete das, was seit Oktober 1917 in Rußland und zwischen Rußland und den Mittelmächten geschah, eine dreifache Herausforderung. Erstens entlastete der Sieg der Bolschewiki die Mittelmächte vom Druck des Zweifrontenkrieges: Deutschland konnte seine Kräfte nunmehr ganz auf die Westfront, Österreich-Ungarn auf die italienische Front konzentrieren. Zweitens verlangte die Propaganda der Bolschewiki eine Antwort, und zwar weniger ihre auf die proletarische Revolution als die auf den allgemeinen Frieden zielenden Parolen. Von der politischen Tribüne, die die russischen Revolutionäre aus dem Verhandlungstischvon Brest-Litowsk machten, konnten unerwünschte Wirkungen auf die Arbeiterschaft Westeuropas, vielleicht sogar Amerikas ausgehen: Mit dieser Möglichkeit mußte man in London, Paris und Washington rechnen. Drittens war die bloße Tatsache, daß in Brest-Litowsk über eine Front hinweg verhandelt wurde, für die Westmächte nicht ungefährlich: Die Mittelmächte erweckten den Eindruck, daß sie die einzigen seien, die den Friedensappell der Bolschewiki ernst nähmen.
Als erster westlicher Staatsmann gab der britische Premierminister David Lloyd George eine Antwort auf den Aufruf der Bolschewiki, alle kriegführenden Mächte sollten öffentlich ihre Bedingungen für einen Friedensschluß darlegen. Am 5. Januar 1918 hielt der liberale Politiker auf einem Kongreß der britischen Gewerkschaften in London eine Rede, in der er sich erstmals umfassend über die Kriegsziele seiner Regierung äußerte. Großbritannien führe keinen Angriffskrieg gegen das deutsche Volk, sagte er. Es beabsichtige keine Zerstörung Deutschlands und auch nicht der Verfassung des deutschen Kaiserreichs, «obwohl wir eine solche militärautokratische Konstitution im 20. Jahrhundert für einen gefährlichen Anachronismus halten». Durch die Einführung einer wahrhaft demokratischen Verfassung würde Deutschland den überzeugendsten Beweis erbringen, «daß der alte Geist militärischer Vorherrschaft in diesem Krieg tatsächlich erstorben sei, und es würde es uns viel leichter machen, mit Deutschland einen weitherzigen demokratischen Frieden zu schließen. Das jedoch ist eine Sache, die das deutsche Volk zu entscheiden hat.» Großbritannien wolle auch nicht Österreich-Ungarn zerstören oder die Türkei aus den von Türken bewohnten Gebieten Kleinasiens und Thrakiens vertreiben. Es gehe um das Recht der Selbstregierung für die Völker der Donaumonarchie, darunter der dort lebenden Italiener, und, was das Osmanische Reich betreffe, um die Anerkennung der besonderen nationalen Bedingungen Arabiens, Armeniens, Mesopotamiens, Syriens und Palästinas.
An der Spitze der britischen Forderungen stand nach wie vor die vollständige Wiederaufrichtung Belgiens. Außerdem müsse, wie Lloyd George betont vorsichtig formulierte, das Verlangen Frankreichs nach «Wiedererwägung» (reconsideration) des «großen Unrechts» von 1871, der ohne Befragung der Bevölkerung vollzogenen Annexion Elsaß-Lothringens durch Deutschland, erfüllt werden. An Rußland gerichtet, prangerte der Premierminister «Preußen» an, das sich dieeroberten russischen Provinzen einverleiben wolle. «Die Demokratie Englands beabsichtigt, bis zum Letzten den Demokratien Frankreichs und Italiens und allen seinen Verbündeten beizustehen. Wir werden stolz sein, bis zum Ende weiter an der Seite der neuen Demokratie Rußlands zu kämpfen … Aber wenn die gegenwärtigen Machthaber Rußlands unabhängig von ihren
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