Geschichte des Westens
tschechoslowakische Seite machte in der irrigen, möglicherweise vom sowjetischen Geheimdienst inspirierten Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriffs am 20. Mai einen Teil ihrer Streitkräfte mobil. Die britische Regierung ließ Hitler mitteilen, sie würde kaum anders können als Frankreich beizustehen, falls dieses seinem tschechoslowakischen Verbündeten zu Hilfe komme, gab aber gleichzeitig dem Quai d’Orsay zu verstehen, daß mit einem Waffengang der Briten nicht zu rechnen sei. Am 30. Mai setzte Hitler die Wehrmacht von seinem «unabänderlichen Entschluß» in Kenntnis, «die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen». Als Termin, bis zu dem die Wehrmacht bereit sein müsse, in die Tschechoslowakei einzumarschieren und Böhmen und Mähren in Besitz zu nehmen, nannte er den 1. Oktober 1938.
Die akute Gefahr eines großen europäischen, ja vielleicht eines zweiten Weltkrieges vor Augen, lehnten sich im Sommer 1938 erstmals führende Militärs, Diplomaten und namhafte Konservative gegen Hitler auf. Der Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Ludwig Beck, forderte, gestützt auf eigene Denkschriften zur militärischen Lage, den Oberbefehlshaber des Heeres, General von Brauchitsch, auf, das Signal zur kollektiven Befehlsverweigerung der Generalität zu geben, und trat, als Brauchitsch sich zu diesem Entschluß nicht durchringen konnte, am 18. August von seinem Posten zurück. Becks Nachfolger, General Halder, unterstützte zeitweilig Planungen für einen Umsturz, an denen neben anderen der Berliner Wehrkreisbefehlshaber, General von Witzleben, der Chef der Abwehr, Admiral Canaris, und der Londoner Botschaftsrat Theodor Kordt beteiligt waren. Zu den Verschwörerngehörte auch der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler, der sich aber, wohl aus Sorge vor polizeilicher Verfolgung, von August bis Mitte Oktober 1938 in der Schweiz aufhielt.
Brauchitsch war nicht eingeweiht. Verweigerte er sich, konnte das Vorhaben kaum gelingen. Eine andere Voraussetzung für das Losschlagen war eine unnachgiebige Haltung der Briten: Nur wenn London Hitler entschieden entgegentrat, sah die konservative Widerstandsbewegung eine Chance, den Diktator zu stürzen und, das erschien vielen Verschwörern die volkstümlichste Alternative zu sein, die Monarchie unter einem der Söhne des Kronprinzen Wilhelm wiederherzustellen.
Beck und die anderen Konservativen schlossen Krieg als Mittel zur Erweiterung des deutschen Einflusses in Mitteleuropa keineswegs aus; auch sie sahen in der Tschechoslowakei eine unerträgliche Bedrohung Deutschlands. Aber Deutschland mußte nach ihrer Überzeugung eine realistische Chance haben, diesen Krieg zu gewinnen, also darauf bedacht sein, seine Kriegsziele zu begrenzen, die Zahl der Gegner möglichst klein zu halten und Umsicht walten zu lassen bei der Wahl des Zeitpunktes für den Kriegsbeginn. Einen militärischen Konflikt mit Großbritannien und Frankreich wollten sie um nahezu jeden Preis vermeiden. In dieser Hinsicht stimmten sie nicht nur mit dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Ernst von Weizsäcker, und Reichsbankpräsident Schacht, sondern sogar mit Göring überein. Die konservative Fronde wollte eine expansive Großmachtpolitik im wilhelminischen Stil, freilich ohne deren antienglische Spitze, betreiben. Die Zukunft Deutschlands durch die Vabanquepolitik Hitlers aufs Spiel zu setzen lehnte sie ab.
Als ein Abgesandter Becks, der ehemalige konservative Politiker Ewald von Kleist-Schmenzin, im August 1938 London aufsuchte, drang er nur zu konservativen Kritikern der Appeasementpolitik wie Winston Churchill und Lord Vansittart, dem Chefberater des früheren Außenministers Anthony Eden und Under Secretary of State im Foreign Office, vor. Chamberlain wurde zwar über das Drängen der Frondeure auf britische Härte unterrichtet, hielt Kleists Warnungen vor Hitlers kriegerischen Absichten aber für übertrieben. Die konservativen Verschwörer in Berlin erinnerten den Premierminister an die «Jakobiten am französischen Hof zur Zeit König Wilhelms», also an die emigrierten Anhänger Jakobs II., die nach der Glorious Revolutionvon 1688/89 auf die Restauration der Stuartmonarchie hinarbeiteten.
Ähnlich ging es Botschaftsrat Kordt, der am 7. September von Außenminister Halifax empfangen wurde und diesen mit Wissen und Billigung Weizsäckers aufforderte, bei Hitler keine Zweifel an der Kriegsbereitschaft
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