Geschichte des Westens
Chamberlain nicht eingehen konnte, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, er habe sich einer Erpressung gebeugt. Während die Gespräche noch andauerten, kam am späten Abend des 23. September die Meldung von der tschechoslowakischen Mobilmachung. Trotz der dramatischen Zuspitzung erklärte sich Chamberlain bereit, das «Memorandum» genannte Ultimatum mit den deutschen Forderungen der Regierung in Prag zuzustellen. Als Frist für die bedingungslose Annahme setzte Hitler den 28. September, 14 Uhr.
Als Hitler am 26. September die Nachricht von der Ablehnung seiner Forderungen durch die tschechoslowakische Regierung erhielt,schien die Welt am Rande eines großen Krieges zu stehen. Tags zuvor hatte Großbritannien seine Flotte in Kriegsbereitschaft versetzt, Frankreich Reservisten einberufen. Am 26. September erklärte die britische Regierung, England werde im Fall einer militärischen Aktion gegen die Tschechoslowakei Frankreich unterstützen. Am Abend desselben Tages forderte Hitler Beneš in einer von allen deutschen Rundfunksendern übertragenen Rede im Berliner Sportpalast ultimativ auf, zwischen Frieden und Krieg zu wählen, und versicherte, das Sudetenland sei seine letzte territoriale Forderung an Europa: «Wir wollen gar keine Tschechen.» Die fanatische Rede wurde mit frenetischem Beifall aufgenommen. Aber die Stimmung im Sportpalast war nicht die des deutschen Volkes. Den amtlichen Berichten zufolge war bei den Deutschen von Kriegsbegeisterung so gut wie nichts zu spüren. Die Hoffnung auf die Bewahrung des Friedens war vielmehr allgegenwärtig.
Am Tag nach der Sportpalastrede, dem 27. September, gab Hitler den Befehl, Kräfte für eine erste Angriffswelle bereitzustellen und 19 Divisionen mobil zu machen. Die deutschen Verschwörer mußten jetzt damit rechnen, daß der Ernstfall schon am kommenden Tag eintreten würde. Doch das Signal, der «Angriffsbefehl», kam nicht. Am 28. September, noch vor Ablauf des deutschen Ultimatums an die Tschechoslowakei, machte Mussolini, von Chamberlain und Roosevelt darum gebeten, das Angebot einer Vermittlung durch Italien, wenn auch zunächst in der Form, daß er Hitler bat, die deutsche Mobilmachung um 24 Stunden zu verschieben.
Hitler hätte den Vorschlag des «Duce», mit dem er im Oktober 1936 die «Achse Berlin-Rom» vereinbart hatte, nicht ablehnen können, ohne vor aller Welt und auch in den Augen des deutschen Volkes als Kriegstreiber dazustehen. Folglich ordnete er den Aufschub an. Einige Stunden später ging er auf Chamberlains Vorschlag einer internationalen Konferenz zur Beilegung des Streits um die Sudetengebiete ein – allerdings mit einer wichtigen Modifikation: Er lud Chamberlain, Daladier und Mussolini ein, am nächsten Vormittag mit ihm in München zusammenzutreffen, nicht aber Beneš, den der britische Premierminister mit dabei haben wollte.
Am 29. September trafen sich die vier Staats- und Regierungschefs in der bayerischen Hauptstadt. Das Ergebnis kam den Godesberger Forderungen des «Führers» sehr nahe. Die Tschechoslowakei mußteam 1. Oktober mit der Räumung des rein deutschen Gebietes beginnen und sie am 10. Oktober abschließen. Während dieser Zeit, beginnend am 1. Oktober, rückte die Wehrmacht etappenweise in das geräumte Gebiet ein. Für die ethnisch gemischten Gebiete war eine Abstimmung vorgesehen (auf die später verzichtet wurde); ferner sollte es ein Optionsrecht für Deutsche jenseits und Tschechen diesseits der neuen Grenze geben. Großbritannien und Frankreich garantierten den Bestand des restlichen Staatsgebietes der Tschechoslowakei für den Fall eines unprovozierten Angriffs. Deutschland und Italien wollten sich dieser Garantie nach Regelung der Frage der polnischen und der ungarischen Minderheiten anschließen, lösten dieses Versprechen aber nicht ein.
Hitler war der Gewinner, in anderer Hinsicht aber auch ein Verlierer der Konferenz. Er hatte wiederum ohne Schwertstreich ein deutsch besiedeltes Gebiet für Deutschland erobert, was sich als neuer Beleg seiner staatsmännischen Genialität propagandistisch ausschlachten ließ. Aber er hatte sehr viel mehr gewollt als die Aneignung des Sudetenlandes, nämlich einen Vorstoß der Wehrmacht nach Prag, die völlige Vernichtung des tschechoslowakischen Staates und die Inbesitznahme von Böhmen und Mähren. So weit war er nun, infolge der Vermittlungsaktion Mussolinis, nicht gelangt. Er hätte dieses Ziel auch nicht ohne Krieg und zwar vermutlich einen Krieg von mindestens
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