Geschichte des Westens
freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich» auszusprechen. Hitler sah darin einen Bruch der Vereinbarungen, die er am 12. Februar in Berchtesgaden mit Schuschnigg getroffen hatte. Er verlangte deshalb am 11. März die Absetzung des Plebiszits und, nachdem Wien diesen Schritt getan hatte, den Rücktritt Schuschniggs und die Ernennung des Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zu seinem Nachfolger. Als der widerstrebende Bundespräsident Miklas auf Drängen des Bundeskanzlers auch diesen Forderungen nachkam, hatten die österreichischen Nationalsozialisten vielerorts bereits die Macht an sich gerissen. In den frühen Morgenstunden des 12. März marschierte dieWehrmacht in den Nachbarstaat ein. Zu diesem Zeitpunkt wußte Hitler schon, daß Mussolini ihm diesmal, anders als im Juli 1934, nicht in den Arm fallen würde.
Bis Linz begleitete der «Führer» die deutschen Truppen. Der Jubel, mit dem er überall empfangen wurde, trug mit dazu bei, daß er noch am 13. März in Linz das Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich unterzeichnete. Zwei Tage später erstattete Hitler in Wien vor einer riesigen, ihm zujubelnden Menge die «größte Vollzugsmeldung» seines Lebens: «Als der Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich.»
Bei seinem ersten Griff über die Grenzen setzte sich Hitler erneut über internationales Recht, die Verträge von Versailles und St. Germain, hinweg, aber mit massivem Widerstand seitens der westlichen Demokratien brauchte er nicht zu rechnen: Weder in Frankreich noch in Großbritannien war die Bevölkerung bereit, für ein Siegerrecht in den Krieg zu ziehen, das die Deutschen und die Österreicher bisher an der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts gehindert hatte. Zudem befand sich Frankreich, als die Wehrmacht in Österreich einmarschierte, gerade in einem politischen Vakuum: Camille Chautemps war am 10. März zurückgetreten, Léon Blum trat erst am 13. März seine Nachfolge an. Der britische Premierminister Neville Chamberlain verurteilte zwar das deutsche Vorgehen, nahm es aber zugleich als fait accompli hin.
Das Echo im «Altreich» auf den «Anschluß» und die Ankündigung einer Volksabstimmung hierüber am 10. April war überwältigend. Selbst die Prager Exil-SPD kam auf Grund der Berichte ihrer Vertrauensleute im Reich zu dem Ergebnis, «daß die nationale Hochstimmung … echt ist und nur eine weitsichtigere, in der Kritik standfeste Minderheit sich ausschließt». In Österreich warben die katholischen Bischöfe und selbst ein prominenter Sozialdemokrat, der frühere Staatskanzler Karl Renner, für ein Ja bei der Volksabstimmung. Am 10. April stimmten jeweils über 99 Prozent in Österreich wie im «Altreich» für die «Wiedervereinigung» und gleichzeitig für die «Liste unseres Führers Adolf Hitler» – die einzige Liste bei der Wahl des neuen, nunmehr «großdeutschen» Reichstages.
Von einer geheimen Wahl konnte im April 1938 nicht mehr die Rede sein; ungültige Stimmen wurden mancherorts in Ja-Stimmen verwandeltoder Nein-Stimmen als ungültig bewertet. An der Popularität des «Anschlusses» konnte es dennoch keinen Zweifel geben – und auch nicht an der Popularität des Mannes, der ihn herbeiführte. Hitler galt nun auch bei vielen, die ihm bislang mißtraut hatten, als der Staatsmann, der Bismarcks Werk vollendete, indem er den Bruch von 1866 überwand und eine Brücke schlug zum «alten», dem 1806 untergegangenen ersten Reich der Deutschen. Überzeugte «Kleindeutsche» gab es 1938 ohnehin kaum noch: Die Zeit der protestantischen Nationalliberalen war schon seit langem abgelaufen, und die Einsicht der späten Paulskirche, daß sich mit Österreich ein deutscher Nationalstaat nicht bilden lasse, war seit der Auflösung der Habsburgermonarchie historisch überholt.
Von den wirtschaftlichen und strategischen Vorteilen der nunmehr verwirklichten großdeutschen Lösung sprachen fast nur die Experten. Daß Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan besonders hartnäckig auf einen raschen «Anschluß» gedrängt hatte, war in sich logisch: Österreich vergrößerte das deutsche Industrievolumen um etwa 8 Prozent. Am wertvollsten waren die reichen Eisenerzvorkommen im Steirischen Erzberg, die bisher von der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft ausgebeutet worden waren
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