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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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ebenso tief wie das Mißtrauen, das der Generalsekretär der KPdSU gegenüber den Westmächten und vor allem gegenüber der Regierung der Tories in London empfand. Tatsächlich hatte der britische Premierminister bei aller Empörung über Hitlers Vertragsbruch vom 15. März 1939 seinen Glauben an eine Zukunft des Appeasement noch nicht vollständig aufgegeben. Er stand damit nicht allein. Die Federation of British Industry, seit jeher eine Vorkämpferin eines «economic appeasement», nahm Verhandlungen mit der (1934 geschaffenen) Reichsgruppe Industrie ausgerechnet an jenem Tag auf, an dem die Wehrmacht in die «Resttschechei» einmarschierte. Zwei Tage später, am 17. März 1939, unterzeichneten beide Organisationen eine Vereinbarung, in der sie sich für deutsch-britische Verhandlungen aussprachen, die der zerstörerischen Konkurrenz ein Ende bereiten und ein Höchstmaß an wirtschaftlicher Zusammenarbeit ermöglichen sollten. Im Juni und Juli 1939 kam es zwischen Chamberlains diplomatischen Chefberater Sir Horace Wilson und Ministerialdirektor Helmut Wohlthat aus Görings Vierjahresplanbehörde zu mehreren Gesprächen, in denen Wilson den britischen Willen zur wirtschaftlichen Kooperation, zur Erleichterung des Zugangs zu britischen Märkten für deutsche Produzenten und zu kolonialpolitischen Zugeständnissen bekräftigte – freilich unter derVoraussetzung, daß Deutschland etwas zur Wiederherstellung der internationalen Stabilität tat.
    Seine Rüstung hatte Großbritannien auch in der Hochzeit des Appeasement nicht aus den Augen verloren. Im Oktober 1938, kurz nach der Münchner Konferenz, erhöhte das Unterhaus den Militäretat von 1,5 auf 2,1 Milliarden Pfund Sterling, was vor allem der Royal Air Force zugute kam. Am 29. Mai 1939 stimmte das Unterhaus gegen die Stimmen der Labour Party der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht zu, die 1920 außer Kraft gesetzt worden war. Frankreich, das sich unter dem Regime der Sondervollmachten wirtschaftlich rasch zu erholen begann, forcierte unter dem Eindruck der deutschen Aggression vom März 1939 ebenfalls seine Anstrengungen auf dem Gebiet der Rüstung. Als Marcel Déat, der ehemalige Sozialist und nunmehrige Chef des rechtsradikalen Rassemblement National Populaire, am 4. Mai 1939, in der Zeitung «L’Œuvre» seine berüchtigte Frage «Mourir pour Dantzig?» mit einem Nein beantwortete, sprach er nicht für die Mehrheit der Franzosen. Bei einer Umfrage, ob man Hitler mit Gewalt entgegentreten sollte, falls er sich anschickte, die Freie Stadt Danzig zu erobern, entschieden sich um dieselbe Zeit 76 Prozent für ein Ja und 17 Prozent für ein Nein; 7 Prozent enthielten sich der Stimme.
    Einen Rückschlag erlitten die militärischen Bemühungen der beiden größten westeuropäischen Demokratien am 11. Juli 1939: An diesem Tag durchkreuzte der außenpolitische Ausschuß des amerikanischen Senats mit 12 gegen 11 Stimmen die Absicht von Präsident Roosevelt, das geltende Neutralitätsgesetz von 1937 so zu lockern, daß Großbritannien und Frankreich im Kriegsfall, entsprechend der «cash and carry»-Praxis, militärisches Material in den USA kaufen und auf eigenen Schiffen abtransportieren konnten. Das Repräsentantenhaus hatte am 30. Juni einem entsprechenden Antrag mit der knappen Mehrheit von 200 gegen 188 Stimmen zugestimmt. Im Senat aber hatten die Isolationisten das Übergewicht. An eine aktive Unterstützung Großbritanniens und Frankreichs durch die Vereinigten Staaten im Fall eines Krieges mit Deutschland war im Sommer und Herbst 1939 nicht zu denken. Japan gegenüber gingen die USA auf Konfrontationskurs: Am 26. Juli 1939 kündigte Außenminister Hull auf Betreiben des Senats Tokio das Auslaufen des Handelsvertrages von 1911 an.
    In die Zeit zwischen den politischen und den im engeren Sinn militärischenVerhandlungen, die Großbritannien und Frankreich im Sommer 1939 mit der Sowjetunion führten, fiel auch eine Begegnung von zwei sowjetischen Diplomaten, dem Berliner Geschäftsträger Georgi Astachow und dem stellvertretenden Leiter der Handelsmission in Berlin, Ewgenij Bacharin, mit dem Legationsrat Julius Schnurre vom Auswärtigen Amt in einem Berliner Weinlokal am 26. Juli. Bei dieser Gelegenheit warb der Vertreter der Wilhelmstraße unverhohlen um eine deutsch-sowjetische Verständigung, konkret um einen Nichtangriffspakt und eine Einigung über die beiderseitigen Interessen in Ostmitteleuropa. Sein Hauptargument lautete,

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