Geschichte des Westens
Verfügung stehenden Kräfte vollkommen falsch eingeschätzt, und es erleidet nun einen allmählichen Vernichtungsprozeß, den es uns zugedacht hatte und auch bedenkenlos an uns vollstrecken ließe, wenn es dazu die Macht hätte. Es geht jetzt nach seinem eigenen Gesetz: ‹Auge um Auge, Zahn um Zahn!› zugrunde.»
Goebbels’ Mitteilung, daß Hitlers Prophezeiung von der Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa bereits in das Stadium des «Vollzugs» eingetreten sei, war unmißverständlich und unüberhörbar: «Das Reich» hatte im Herbst 1941 eine Auflage von einer Million Exemplaren. Wer den Artikel des Propagandaministers mit der plakativen Überschrift «Die Juden sind schuld!» las oder von ihm hörte, erfuhr auf diese Weise, daß im Osten Juden massenweise umgebracht wurden – und daß das Regime entschlossen war, diesen Prozeß bis zum bitteren Ende fortzusetzen. «In dieser geschichtlichen Auseinandersetzung ist jeder Jude unser Feind», hieß es in dem Artikel vom 16. November 1941, «gleichgültig, ob er in einem polnischen Ghetto vegetiert oder in Berlin oder in Hamburg noch sein parasitäres Dasein fristet oder in New York oder in Washington in die Kriegstrompete bläst … Die Juden sind Sendboten des Feindes unter uns. Wer sich zu ihnen stellt, läuft im Kriege zum Feind über.»
Der Artikel des Propagandaministers war in erster Linie eine Warnung an die offenbar nicht wenigen Deutschen, die Mitleid mit den Juden hatten. Allen, die solches Mitgefühl zeigten, drohte Goebbels härteste Konsequenzen an. «Wenn einer den Judenstern trägt, so ist er damit als Volksfeind gekennzeichnet. Wer mit ihm noch privaten Umgang pflegt, gehört zu ihm und muß gleich wie ein Jude gewertet und behandelt werden.» Ob Goebbels zugleich eine Art letzter Warnung an die amerikanischen Juden zu richten gedachte, denen er vorwarf, sie wollten die Vereinigten Staaten in den Krieg mit Deutschland treiben, ist ungewiß. Aber es erscheint möglich. Immerhin gab es im November 1941 den «Weltkrieg» noch nicht, von dem Hitler Mitte August angenommen hatte, er werde in allernächster Zeit zur Tatsache werden.
In den Vereinigten Staaten war man auf Grund laufender Berichte der «New York Times» aus Berlin darüber informiert, daß seit Mitte Oktober 1941 Juden aus dem Reichsgebiet in den Osten deportiert wurden. Die Deportationen waren Hitlers Antwort darauf, daß PräsidentRoosevelt nach dem «Greer»-Zwischenfall am 11. September 1941 die Flotte angewiesen hatte, auf deutsche und italienische U-Boote in amerikanischen Interessengewässern «auf Sicht» zu schießen. Doch liquidieren wollte Hitler die deutschen Juden so lange nicht, als zwischen dem Reich und den USA formell noch Friede herrschte. Am 30. November nahm Hitler die geplante, aber von ihm nicht autorisierte Erschießung von etwa 5000 Juden aus dem Reichsgebiet bei Kaunas zum Anlaß, Heydrich über Himmler anzuweisen: «Judentransport aus Berlin! Keine Liquidation.» Der Befehl traf verspätet am Bestimmungsort, Riga, ein, wo am gleichen Tag 1000 deutsche Juden erschossen worden waren, wurde aber bei den anderen Judentransporten aus dem Reich befolgt. Während Goebbels am 16. November von der Kriegsschuld des «Weltjudentums» sprach und allen Juden mit der Vernichtung drohte, schien Hitler zwei Wochen später bereit, mit dem Befehl zur Vernichtung der deutschen und westeuropäischen Juden zu warten, bis es am Umschlag des europäischen Krieges in den Weltkrieg nichts mehr zu deuteln gab.
Der japanische Angriff auf die amerikanische Flotte bei Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 beendete für Hitler die Phase, in der er sich, was die «Judenfrage» anging, noch taktische Rücksichtnahmen auf die USA auferlegt hatte. Unmittelbar nach Pearl Harbor muß sich Hitler definitiv entschlossen haben, die Juden im gesamten deutschen Einflußbereich noch während des Krieges zu töten. «Wir wissen, welche Kraft hinter Roosevelt steht», erklärte der «Führer» am 11. Dezember vor dem Großdeutschen Reichstag. «Es ist jener ewige Jude, der seine Zeit als gekommen erachtet, auch an uns zu vollstrecken, was wir in Sowjet-Rußland alle schaudernd sehen und erleben mußten.» Tags darauf sprach Hitler vor den Reichs- und Gauleitern. «Bezüglich der Judenfrage ist der Führer entschlossen, reinen Tisch zu machen», hielt Goebbels in seinem Tagebuch fest. «Er hat den Juden prophezeit, daß, wenn sie noch einmal einen Weltkrieg herbeiführen würden, sie dabei
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