Geschichte des Westens
Ergebnissen zeitigen sollte, soziale Sicherheit und wirtschaftlichen Fortschritt gleichzeitig voranbringen.»
Die Parteien reagierten keineswegs einmütig auf den Vorstoß von Beveridge und seinen Kollegen. Churchill und die meisten Tories fürchteten, daß die Reformforderungen das Land vom Vordringlichsten, den Kriegsanstrengungen, ablenken könnten. Die Labour Party sah sich durch den Bericht in ihrem politischen Wollen nachdrücklich bestätigt, zerfiel aber sogleich in zwei Lager: die Regierungsmitglieder, die den Plan als Grundlage für die innere Politik der Nachkriegszeit, aber nicht als unmittelbar aktuell betrachteten, und die Mehrheit der Unterhausfraktion, die das Kabinett auf die Empfehlungen festlegen und sofort mit ihrer Verwirklichung beginnen wollte. Ein entsprechender Antrag wurde nach eingehender Debatte in den Commons im Februar 1943 mit 225 zu 119 Stimmen abgelehnt, wobei 97 Labour-Abgeordnete gegen die Regierung stimmten und nur 23 für sie – unter den letzteren alle bis auf einen Parlamentarier, die in der einen oder anderen Funktion dem Kabinett Churchill angehörten.
Der Premierminister wurde seit 1940 nicht müde, den Krieg den «Krieg des Volkes» (People’s War) zu nennen. Tatsächlich fehlte es nicht an eindrucksvollen Beispielen des nationalen Zusammenstehens und der praktischen Solidarität mit sozial Schwächeren – beispielsweise angesichts der deutschen Bombenangriffe, als besser situierte Familien, vor allem auf dem Lande, im Zuge von Evakuierungen Kinder armer Familien aus dem Londoner East End und Elendsvierteln anderer britischer Großstädte bei sich aufnahmen. Doch es gab auch krasse Fälle von Privilegienwahrung, Klassendünkel und Egoismus: So weigerten sich Golfclubs, ihre Anlagen in Ackerland umzuwandeln, und Hotels, einkommensschwache Opfer des Bombenkrieges bei sich unterzubringen. Angehörige der Unterschicht nutzten Luftangriffe aus, um Geschäfte zu plündern. 1941 wurden offiziell 4585 solcher Vorkommnisse gezählt.
Mit der Rhetorik des «Volkskrieges» nicht zu vereinbaren waren auch die rassischen Vorurteile, unter denen in Großbritannien lebende Menschen schwarzer Hautfarbe zu leiden hatten: Sie durften, trotz des Mangels an Soldaten und besonders an Piloten, zunächst nicht in der Royal Air Force dienen; selbst die aus Zivilisten bestehende Home Guard, die bei der Abwehr einer deutschen Invasion tätig werden sollte, blieb ihnen einstweilen versperrt. Weiße Soldaten aus den USA, die in Großbritannien stationiert waren, erreichten zeitweilig, bis zum erfolgreichen Einschreiten des Colonial Office, daß Schwarzen der Zutritt zu Tanzhallen und Restaurants untersagt wurde. Weiße Soldaten hatten nach wie vor ihre eigenen Krankenhäuser, Kinos und Offizierskasinos.
Der Anteil der Frauen an den Erwerbstätigen stieg, wie schon erwähnt, während des Krieges erheblich an. Von der 1941 eingeführten allgemeinen Dienstpflicht waren aber Frauen ausgenommen, die Kinder unter 14 Jahren zu versorgen oder häusliche Aufgaben wie die Zubereitung der Mittagsmahlzeit für ihre Männer zu erfüllen hatten. Für die in der Industrie beschäftigten verheirateten Frauen, die kleine Kinder versorgen mußten, richtete die Regierung Kindergärten ein. Bei den Gewerkschaften, die einen Verdrängungswettbewerb zu Lasten ihrer meist männlichen Mitglieder fürchteten, stieß die Ausweitung der Frauenarbeit auf anhaltenden Widerstand. Der offiziell anerkannte Grundsatz «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit» wurde von den Unternehmern auf breiter Front unterlaufen. Auch wenn Frauen dieselbe, ofthochqualifizierte Arbeit verrichteten wie Männer, verdienten sie meist nur halb so viel wie diese.
Insgesamt war die wirtschaftliche Mobilmachung in Großbritannien weniger «total» als in Deutschland, was sich auch darin zeigte, daß der durchschnittliche Konsumstandard im Vereinigten Königreich weniger stark beschnitten wurde als im Deutschen Reich: Der Index des realen Pro-Kopf-Konsums sank in Deutschland vom Basisjahr 1938 bis 1944 auf 70, in Großbritannien nur auf 88 Prozent. Wie in Deutschland gewann während des Krieges auch im Vereinigten Königreich die staatliche Planung an Bedeutung. John Maynard Keynes, der im Juli 1940 zum Sonderberater des Finanzministeriums ernannt wurde, setzte einen neuen Typ von Haushaltsplan durch, der nicht nur die Einnahmen und Ausgaben des Staates enthielt, sondern auch die Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung – einer
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