Geschichte des Westens
betroffenen Betrieb waren untersagt.
Zu keiner Zeit profitierten die Vereinigten Staaten so stark von der Emigration hochqualifizierter jüdischer Gelehrter aus Deutschland wie in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Von Hitler vertriebene Geisteswissenschaftler berieten die Regierung in Fragen der psychologischen Kriegführung und der Nachkriegsplanung. Ihre Kollegen aus den Naturwissenschaften trugen mit dazu bei, daß die Vereinigten Staaten den Wettlauf mit Deutschland um den Bau der Atombombe gewannen. Amerikanischen und britischen Experten gelang es, die Raketentechnologie so weiterzuentwickeln, daß die Alliierten bei der Abwehr feindlicher U-Boote, Flugzeuge und Raketen einen entscheidenden Vorsprung erzielten. Dazu kam die immer raschere Entschlüsselung der deutschen und japanischen Geheimcodes, wobei im Fall Deutschland Polen und Briten die Pioniere waren. Die Ressourcen Amerikas schienen unbegrenzt, aber keine war so wichtig wie die mentale: Seit dem Tag von Pearl Harbor stand die Nation, wenn es darauf ankam, einmütig hinter dem, was der Präsident von ihr verlangte, um das Land und seine Ideale zum Sieg über die Diktatoren in Berlin, Rom und Tokio zu führen.[ 15 ]
Der Diktator in Moskau brauchte nach dem deutschen Angriff vom 22. Juni 1941 einige Tage, um seine Fassung wiederzugewinnen. Zu den ersten Maßnahmen, die Stalin danach ergriff, gehörte die Evakuierung aller kriegswichtigen Industrieanlagen und, soweit es möglich war, der Belegschaften aus frontnahen Gebieten in Regionen, von denen man annahm, daß sie durch die deutschen Armeen oder durch Angriffe der Luftwaffe vorerst nicht gefährdet waren: ins Wolgagebiet, nach dem Ural, nach Westsibirien und Zentralasien. Verlagert wurden Waffen-, Motoren- und Traktorenfabriken, die Luftfahrtindustrie, Stahl- und Automobilwerke aus Leningrad, Moskau, der Ukraine und bald auch aus dem Donezbecken – zwischen Juli und November 1941 insgesamt 1523 industrielle Unternehmungen. Alexander Werth, während des Krieges Moskauer Korrespondent der «Sunday Times», spricht in diesem Zusammenhang in seinem Buch «Russia at War» von einer «einzigartigen Leistung», hebt aber auch hervor, daß längst nicht alle industriellen Anlagen rechtzeitig evakuiert oder, entsprechend der am 3. Juli 1941 von Stalin angeordneten Politik der «verbrannten Erde», zerstört werden konnten.
Die Arbeiterschaft unterlag seit Beginn des deutsch-sowjetischenKrieges einem immensen Leistungsdruck. Am 22. Juni wurden die Siebentagewoche und längere Tagesarbeitszeiten eingeführt. Ende 1941 wurden die Beschäftigten der Rüstungsindustrie zu «mobilisierten» Personen erklärt: Sie konnten ihren Arbeitsplatz praktisch nicht mehr wechseln. Im Februar 1942 folgte die Dienstpflicht für die gesamte arbeitsfähige städtische Bevölkerung, und zwar für Männer, die zwischen 16 und 55 Jahre, und Frauen, die zwischen 16 und 40 Jahre alt waren. Bald darauf wurde die ländliche Bevölkerung derselben Regelung unterworfen.
Je weiter die Wehrmacht nach Osten vordrang, desto schlechter, ja katastrophaler wurde die Lebensmittelversorgung. Die Gebiete, die bis November 1941 von den Deutschen besetzt wurden, hatten 38 Prozent der Getreide- und 84 Prozent der Zuckerproduktion der Sowjetunion geliefert; aus ihnen stammten 38 Prozent des Vieh- und 60 Prozent des Schweinebestandes. Infolgedessen mußten die Anbauflächen im Wolgagebiet, im Ural, in Westsibirien und Kasachstan ausgeweitet und neue Saatkulturen angelegt werden. Die Arbeit in der Landwirtschaft verrichteten während des Krieges fast nur noch Frauen und Kinder; in der Erntezeit mußte ihnen die verfügbare städtische Bevölkerung dabei helfen.
Die psychologische Mobilmachung im Zeichen des «Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion» schloß gezielte Appelle an den großrussischen Nationalstolz ein, wobei Stalin einen wahren Kult nicht nur um die bedeutendsten Dichter und Komponisten wie Tolstoi und Tschechow, Glinka und Tschaikowski, sondern auch um Kriegshelden des Zarenreiches wie die Marschälle Suworow und Kutusow und nicht zuletzt um den Zaren Iwan den Schrecklichen betrieb, dem Sergej Eisenstein 1944 seinen berühmten Monumentalfilm widmete. Zum Sowjetpatriotismus paßten die rein außenpolitisch motivierte Auflösung der Kommunistischen Internationale im Mai 1943 und die ebenso demonstrative Annäherung des Regimes an die orthodoxe Kirche, mit der Stalin im September 1943 eine Art Konkordat schloß.
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