Geschichte des Westens
andere Wahl, wenn sie ihr internationales Ansehen nicht zerstören wollte. Längst war man über das Geschehen in den Vernichtungslagern informiert, und als im Herbst 1944 die beiden Transporte aus Bergen-Belsen in der Schweiz eintrafen, kannte alle Welt die Bilder von den Gaskammern in Treblinka. Das Konzentrationslager war Ende Juli von der Roten Armee befreit worden, bevor die Deutschen die Spuren ihres Vernichtungswerkes hatten verwischen können.
Für den ungarischen Reichsverweser Admiral Horthy gab es im Sommer 1944 keinen Zweifel mehr am Ausgang des Krieges. Am 6. Juli verfügte er die Einstellung der Deportationen von Juden aus Ungarn. Am 25. August entließ er Ministerpräsident Sztójay, einen dem Deutschen Reich gegenüber betont loyalen Politiker, und ersetzte ihn durch einen Mann seines Vertrauens, Generaloberst Géza von Lakatos. Der neue Regierungschef ordnete sogleich die Wiedereröffnung der im April geschlossenen jüdischen Geschäfte an (sofern einer der Inhaber oder Manager kein Jude war). Als die Rote Armee Anfang Oktober von Rumänien aus in Ungarn eindrang, ließ Horthy in Moskau geheime Verhandlungen über eine Verständigung mit der Sowjetunion aufnehmen. Am 11. Oktober wurde in der sowjetischen Hauptstadt ein vorläufiger Waffenstillstand unterzeichnet. Vier Tage später erteilte der Reichsverweser den ungarischen Truppen über den Rundfunk den Befehl zur Beendigung des Kampfes. Doch die radikal antisemitischen Pfeilkreuzler unter Férenc Szálasi hatten die Armee inzwischen so erfolgreich unterwandert, daß die Anweisung ins Leere lief. Die SS nahm den Reichsverweser fest und zwang ihn mit der Drohung, andernfalls seinen Sohn zu erschießen, Szálasi zum Ministerpräsidenten zu ernennen und selbst von seinem Amt zurückzutreten. Anschließend wurde Horthy in Deutschland interniert.
In den folgenden Wochen wurden etwa 50.000 ungarische Juden, Männer wie Frauen, zu einem Fußmarsch ins Reichsgebiet gezwungen, auf dem viele von ihnen umkamen. Von den Überlebenden starben Tausende beim Bau von Befestigungsanlagen rund um Wien. 35.000 Juden wurden zum gleichen Zweck in der Umgebung von Budapest eingesetzt. Als im Dezember die sowjetischen Truppen immer näher rückten und der Rückzug der ungarischen Truppen in die Hauptstadt unvermeidbar wurde, veranstalteten Schlägertruppen der Pfeilkreuzler, die «Nyilas», auf den Donaubrücken und an den Ufern des Flusses ein furchtbares Blutbad unter den jüdischen Zwangsarbeitern.
In Budapest gab es um diese Zeit zwei Ghettos, von denen das kleinere, das «internationale», unter dem Schutz neutraler Länder wie der Schweiz und Schwedens stand. Nachdem die ungarische Regierung unter dem Druck des Auslands der Auswanderung von 8800 Juden nach Palästina zugestimmt hatte, gelang es der «Va’adat», die individuellen Ausreisezertifikate in Familienzertifikate umzuwandeln. Der Leiter der Abteilung «Fremde Interessen» in der Schweizer Gesandtschaft, Carl Lutz, stellte daraufhin Schutzpapiere für 40.000 Juden aus. Fast 35.000 dieser Papiere wurden von der Regierung Szálasi anerkannt. Das Vorhaben, etwa 40.000 ungarische Juden nach Palästina ausreisen zu lassen, scheiterte schließlich am Veto der SS. Carl Lutz mietete daraufhin in Zusammenarbeit mit dem ersten Sekretär der schwedischen Gesandtschaft, Raoul Wallenberg, und dem regimekritischen deutschen Diplomaten Gerhart Feine etwa 30 große Schutzhäuser an, in denen etwa 30.000 Budapester Juden bis zum Kriegsende wirksamen Schutz fanden. Neben Lutz und Wallenberg waren auch der päpstliche Nuntius und Diplomaten aus Spanien und Portugal an der Rettung von Tausenden ungarischer Juden beteiligt. Der bekannteste Helfer, Raoul Wallenberg, wurde 1945 vom NKWD in die Sowjetunion verschleppt. Sein letztes Lebenszeichen stammt aus dem Jahr 1947.
Die «Nyilas» setzten ihr mörderisches Treiben während der Rettungsaktionen der Diplomaten fort. Mitte Januar 1945 fand ihr letztes großes Massaker an den Ufern der Donau statt, dem in erster Linie jüdische Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen. Zwischen 10.000 und 20.000 Juden wurden während des Winters 1944/45 von den antisemitischen Schlägerbanden umgebracht. Am 13. Februar nahm die Rote Armee die ungarische Hauptstadt ein. Von den ehedem200.000 Budapester Juden überlebte nur knapp die Hälfte das Kriegsende.
Um die Jahreswende 1944/45 verstärkte Himmler seine Versuche, durch Zugeständnisse in der «Judenfrage» eine Brücke zu den
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