Geschichte des Westens
Westalliierten zu schlagen. Der Reichsführer SS autorisierte Kontakte seiner Untergebenen zu Vertretern jüdischer Organisationen in der Schweiz und nahm Verbindung zu möglichen Vermittlern in Schweden und in der Schweiz auf. Dem ihm persönlich bekannten schweizerischen Bundesrat Jean-Marie Musy schlug er die Freilassung von zehntausenden Juden vor, um so den Grund für Verhandlungen mit den angelsächsischen Mächten zu legen. Tatsächlich traf im Januar 1945 ein Zug mit 1200 Juden aus Theresienstadt in der Schweiz ein. Im Februar kam der Vizepräsident des schweizerischen Roten Kreuzes, Folke Graf Bernadotte, nach Berlin, um mit Himmler über die Freilassung skandinavischer Internierter aus dem Konzentrationslager Neuengamme sowie von Juden aus Theresienstadt und Bergen-Belsen zu verhandeln, wobei der Reichsführer sich sehr kooperativ zeigte. Am 21. April empfing der Reichsführer SS sogar einen Vertreter des Jüdischen Weltkongresses, den aus Schweden angereisten Norbert Masur. Das Ergebnis des Gesprächs war bescheiden: Himmler sagte die Entlassung von 1000 jüdischen Frauen und einigen prominenten Ausländern unter den jüdischen Häftlingen des Konzentrationslagers Ravensbrück nach Schweden zu.
Von einer Wende im Vollzug der «Endlösung der Judenfrage» aber konnte keine Rede sein. Das zeigten die Vernichtungsaktionen, die bis in die letzten Kriegswochen hinein weitergingen. Im November 1944 ließ Himmler angesichts des Vormarsches der sowjetischen Truppen die Vergasungen in Auschwitz einstellen und die Gaskammern und Krematorien sprengen, um alle Spuren des Massenmordes zu verwischen. Entsprechend war die SS zuvor schon, soweit möglich, bei den weiter östlich gelegenen Vernichtungslagern vorgegangen. Aus den Massengräbern wurden die Leichen wieder ausgegraben und verbrannt. In Treblinka konnte die Vertuschung des Verbrechens, wie erwähnt, im Juli 1944 nicht zu Ende geführt werden.
Schon vor der Schließung von Auschwitz hatte die SS auf Grund des Drängens von Speer arbeitsfähige Juden zur Rüstungsarbeit nach Deutschland in Marsch gesetzt, unter anderem nach Dachau und in die Tunnel von Dora-Mittelbau im Harz, wo sie von der «OrganisationTodt» unter mörderischen Arbeitsbedingungen bei der Produktion von V-2-Raketen eingesetzt wurden. Im Januar 1945 ließ Himmler sämtliche Lager im Osten evakuieren. Etwa 700.000 bis 800.000 KZ-Häftlinge, in ihrer Mehrzahl Juden, mußten Todesmärsche in Richtung Westen antreten. Rund 250.000 Menschen kamen dabei infolge von Erschöpfung oder Erfrieren, durch Erschießung oder Verbrennen bei lebendigem Leibe ums Leben. Vielerorts beteiligten sich auch Zivilisten, darunter Hitler-Jungen, an den Massakern.
Weit über 5000 jüdische Häftlinge aus Außenstellen des Konzentrationslagers Stutthof ließ der ostpreußische Gauleiter Erich Koch in der zweiten Januarhälfte, als sie auf dem Landweg entlang der Ostseeküste nicht mehr vorankamen, in der Nähe von Palmnicken erschießen. Ein ähnliches Schicksal erlitt der größte Teil der 3000 jüdischen Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald, die die SS im April auf den Marsch nach Theresienstadt schickte. Von den 45.000 Insassen des Lagers Buchenwald erlebte rund ein Drittel das Kriegsende nicht mehr. Kranke Häftlinge blieben in den Lagern zurück. In Auschwitz tötete die SS 200 von ihnen, ausschließlich Frauen, bevor sie endgültig abzog. Am 27. Januar 1945 nahm die Rote Armee das größte der deutschen Vernichtungslager ein und befreite die etwa 7000 überlebenden Häftlinge. Die Zahl der dort ermordeten Menschen belief sich auf 1,3 Millionen. Die Gesamtzahl der Opfer des Holocaust wird auf 5 bis 6 Millionen geschätzt.
An der Ermordung der europäischen Juden waren nicht nur Deutsche, sondern auch Judenfeinde und willfährige Helfer der SS in allen Teilen des von Deutschland beherrschten Europa beteiligt. Aber geplant und in Gang gesetzt hatte den Völkermord das nationalsozialistische Deutschland. Ohne den festen Willen zur Vernichtung der Juden, ohne die Disziplin des damit betrauten Personals, ohne die Kapazitäten der hochentwickelten Industriemacht Deutschland wäre das Projekt nicht zu verwirklichen gewesen. Daß sie von den Alliierten für dieses Menschheitsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden würden, dürften viele Deutsche schon im Frühjahr 1945 geahnt haben. Eine sehr viel radikalere Konsequenz aus der Ausrottung des europäischen Judentums sollte den Deutschen erst
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