Geschichte des Westens
an einer Fortsetzung der Säuberungen deutlich weniger interessiert als ihre Koalitionspartner auf der Linken, die Sozialisten unter dem stellvertretenden Regierungschef Pietro Nenni und die Kommunisten unter Justizminister Palmiro Togliatti. Im Juni 1946 vollzog Togliatti eine (auch in der eigenen Partei umstrittene) Kehrtwende in Sachen Umgang mit dem Faschismus. Er legte ein Amnestiegesetz vor, das viele der bisher verhängten Sanktionen abschwächte oder aufhob und am 22. Juni in Kraft trat. Drei Wochen zuvor, am 2. Juni, war das erste Nachkriegsparlament gewählt worden. Mit 18,9 Prozent für die Kommunisten und 20,7 Prozent für die Sozialisten erhielten die Linksparteien sehr viel weniger Stimmen als erwartet, während die Democrazia Cristiana mit 35,2 Prozent einen als geradezu sensationell empfundenen Erfolg verbuchen konnte.
Der 2. Juni 1946 war auch der Tag eines Plebiszits über die künftige Staatsform Italiens. 54,3 Prozent der Abstimmenden sprachen sich für die Republik, 45,2 Prozent für die Beibehaltung der Monarchie aus. Viktor Emanuel III., der im Oktober 1922 Mussolini zum Ministerpräsidenten ernannt und ihn im Oktober 1943 entlassen hatte, saß zu dieser Zeit schon nicht mehr auf dem Thron. Er hatte am 9. Mai 1946 zugunsten seines Sohnes Umberto II. abgedankt und sich ins Exil nach Ägypten begeben. Umberto verließ wenige Tage nach dem Referendum ebenfalls Italien, und zwar in Richtung Portugal.
Neben dem König war auch das Militär bis 1943 eine zuverlässige Stütze des «Duce» und des faschistischen Regimes gewesen. Die Rolle, die es beim Sturz des Diktators und danach als Verbündeter der Westmächte gespielt hatte, rechnete es sich jetzt als Verdienst an und fand dabei die Unterstützung der Christlichen Demokraten und der von ihnen geführten Regierungen. Diese weigerten sich beharrlich, einer Forderung der Vereinten Nationen nachzukommen und rund 1700 Angehörige der italienischen Streitkräfte an die Länder auszuliefern, von denen sie schwerer Kriegsverbrechen beschuldigt wurden.
Da Italien seinerseits die Auslieferung deutscher Kriegsverbrecher verlangte, war es aber gezwungen, zumindest den Anschein zu erwecken, als sei es ihm ernst mit der Ankündigung, etwaige Kriegsverbrecherselbst zur Rechenschaft zu ziehen. Die Militärgeneralstaatsanwaltschaft leitete in der Tat auch über 2000 Ermittlungsverfahren ein, von denen neben Deutschen auch italienische Kollaborateure und Angehörige der Streitkräfte betroffen waren. Der Vorsatz, keine italienischen Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen, führte aber dazu, daß es so gut wie keine Anklageerhebungen gab. Die große Mehrheit der Italiener fand daran nichts zu beanstanden: Die eigenen Offiziere und einfachen Soldaten galten gemeinhin als «brava gente» (anständige Leute), die, anders als die Deutschen, zu Greueltaten gar nicht fähig waren. Die Kriegsverbrechen, die Italiener vor allem in Äthiopien, Griechenland und Jugoslawien begangen hatten, blieben infolgedessen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ungesühnt.
Die Verdrängung des Unrechts, das Italien unter der Herrschaft des Faschismus anderen Nationen zugefügt hatte, ging einher mit der Neigung, den italienischen Faschismus so sehr vom deutschen Nationalsozialismus, dem «Nazifascismo», abzuheben, daß irgendwelche Gemeinsamkeiten beider Regime kaum noch zu erkennen waren. Gleichzeitig pflegte die italienische Linke den Mythos vom breiten Widerstand gegen den Faschismus – einen Mythos, der es den Kommunisten auch als Oppositionspartei, die sie seit 1947 waren, erlaubte, an das gemeinsame Erbe aller antifaschistischen Kräfte zu appellieren.
Nach dem Urteil Wolfgang Schieders wurde auf diese Weise die «ritualisierte Geschichte der ‹Resistenza› … zur Meistererzählung der italienischen Politik erhoben», ja die Geschichte des Faschismus gezielt auf die Geschichte des Antifaschismus reduziert. Während die Linke sich ungern an ihre Ohnmacht und ihre Niederlage vor und unter dem Faschismus erinnerte, lag der Rechten nichts an der Aufarbeitung ihres Anteils an der Entstehung und Aufrechterhaltung der faschistischen Diktatur. Die Folge war Schieder zufolge, daß sich in Italien in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1945 eine «Gemeinsamkeit des Desinteresses am Faschismus» entwickelte.
Eine andere Gemeinsamkeit bestand in den ersten Nachkriegsjahren in dem Bestreben, einen Friedensvertrag zu erhalten, der den territorialen Besitzstand des Landes
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