Geschichte des Westens
geltenden nichtrussischen Nationalitäten während des Zweiten Weltkrieges. Gemeinsam war diesen Aktionen, ob sie unter den Begriff des Völkermords im Sinne der Konvention der Vereinten Nationen über Verhütung und Bestrafung des Völkermords von 1948 fallen oder nicht, daß sie, wie Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel in Anlehnung an den Soziologen Zygmunt Bauman formulieren, einer «Utopie der Eindeutigkeit» folgten: der Vorstellung einer rassischen, ethnischen, nationalen oder klassenmäßigen Homogenität, in deren Namen es alles zu liquidieren galt, was dieser Vorstellung widersprach. Auf ein weiteres, mit dem Postulat der «Eindeutigkeit» zusammenhängendes Merkmal, das die von totalitären Regimen in Gang gesetzten, «modernen» Massenmorde von älteren unterscheidet, verweist Bauman: «Der moderne Massenmord ist charakteristisch durch den vollkommenen Mangel an Spontanität einerseits und das Vorherrschen rationaler, kalt berechnender Planung andererseits.»
Was den deutschen Völkermord an den europäischen Juden von anderen Genoziden unterschied, waren aber nicht nur die bürokratische Routine und die technische Perfektion, mit der die Opfer, Frauen ebenso wie Männer, Greise ebenso wie Kinder, erfaßt, transportiert und in den Mordfabriken von Belzec, Sobibór, Treblinka undAuschwitz getötet wurden. Es kamen noch andere Besonderheiten hinzu. Die Juden waren kein «Volk» für sich, sie gehörten als Staatsbürger anderen Völkern an und betrachteten sich in vielen Ländern als integrierende Teile der jeweiligen Nation. Aus der Sicht ihrer Feinde hingegen waren die Juden überall auf der Welt und daher nirgendwo zuhause. Für die radikalen Antisemiten war es auch, anders als für die Verfechter des älteren, religiösen Antijudaismus, unerheblich, ob die Juden ihrer überlieferten Religion anhingen oder ihr abgeschworen hatten. Was die Juden zum Todfeind machte, war der Glaube der Antisemiten, daß das Judentum, gleichviel ob in kapitalistisch-plutokratischer oder in marxistisch-bolschewistischer Verkleidung, nach der Weltherrschaft strebte und auf dem Weg zu diesem Ziel alles tat, um die Völker der «arischen» Rasse von innen heraus zu zersetzen und gegeneinander aufzuhetzen.
Diesen Glauben teilten Minderheiten in vielen europäischen Ländern, aber nur in Deutschland war der extreme Antisemitismus aus eigener Kraft an die Macht gelangt, und nur hier stand ein Mann an der Spitze von Staat und Regierung, der sich von der «Vorsehung» berufen wähnte, nicht nur das Judentum, sondern auch den jüdischen Geist zu vernichten, der über das Christentum in die «arischen» Völker eingedrungen war. Deutschland war kulturell ein Land des Westens; es hatte die großen europäischen Emanzipationsprozesse seit dem Mittelalter mitvollzogen, ja im Fall der Reformation in Gang gesetzt. Deutschland hatte Teil gehabt an der europäischen Aufklärung und im 19. Jahrhundert einen Rechtsstaat hervorgebracht, der westlichen Maßstäben entsprach. Es war als Sozialstaat ein Vorbild für andere geworden; es war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein hochentwickeltes Industrieland und eine der führenden Wissenschaftsnationen der Welt. Eben deshalb löste die Ausrottung der europäischen Juden in den westlichen Demokratien fassungsloses Entsetzen aus. «Es besteht kein Zweifel», schrieb Winston Churchill am 11. Juli 1944 an Anthony Eden, «daß es sich hier um das wahrscheinlich größte und schrecklichste Verbrechen der ganzen Weltgeschichte handelt, das von angeblich zivilisierten Menschen im Namen eines großen Staates und eines führenden Volkes Europas mit wissenschaftlichsten Mitteln verübt wird.»
Der Holocaust war ein Menschheitsverbrechen, begangen von einem Land des alten Okzidents, dessen traditionelle Eliten sich gleichwohlvon den Nationen des transatlantischen Westens in einem wesentlichen Punkt unterschieden: Deutschland hatte sich das normative Projekt des Westens, die Ideen von 1776 und 1789, bis 1918 allenfalls teilweise zu eigen gemacht. Die unveräußerlichen Menschenrechte, die Prinzipien der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie bildeten keinen Teil der politischen Kultur des Kaiserreichs. Gehorsam gegenüber einem Staat, der als Rechtsstaat per definitionem nichts Unrechtes anordnen konnte, stand beim deutschen Bürgertum des Bismarckreiches höher im Kurs als der Gedanke politischer Verantwortung für das Gemeinwesen. Im Ersten Weltkrieg stellten die deutschen
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