Geschichte des Westens
Wirtschaftswissenschaftlers Wilhelm Röpke zitierend, von den Deutschen als Hitlers «ersten Opfern» sprach und vom deutschen Antisemitismus sogar behauptete, er sei «in keinem Augenblick eine Volksaktion» gewesen, minderte nicht den Zorn derer, die sich über Jaspers empörten.
Ein ähnlich gespaltenes Echo wie Jaspers› Schrift zur «Schuldfrage» fand ein Manifest, das radikal mit dem nationalistischen Erbe des deutschen Protestantismus brach: das «Stuttgarter Schuldbekenntnis» des Vorläufigen Rates der evangelischen Kirche in Deutschland vom Oktober 1945. Daß die wesentlich auf Betreiben des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm und des Kirchenpräsidenten von Hessen-Nassau, des ehemaligen KZ-Häftlings Martin Niemöller, verabschiedete Erklärung von einer «Solidarität der Schuld» zwischenKirche und Volk sprach, stieß auch innerhalb der Kirche auf verbreiteten Widerspruch. Als unangebrachte Bestätigung der (angeblichen) alliierten These von einer deutschen «Kollektivschuld» galt vor allem der Satz: «Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.» Und viel zu weit ging konservativen Protestanten die Selbstanklage, «daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben». Doch es waren ebendiese Worte, die sich der kollektiven Erinnerung der evangelischen Deutschen einprägten und entscheidend dazu beitrugen, daß die protestantischen Kirchen außerhalb Deutschlands einen Ansatz fanden für ihr Bemühen, dem Ursprungsland der Reformation im Geist der Versöhnung gegenüberzutreten.
Vom größten und schrecklichsten Verbrechen des Nationalsozialismus, der Ermordung der europäischen Juden, war im «Stuttgarter Schuldbekenntnis» nicht ausdrücklich die Rede, und es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis die Deutschen dem Holocaust die zentrale Bedeutung zuerkannten, die ihm zukommt. Der Genozid an den Juden war das, was der Historiker Dan Diner einen «Zivilisationsbruch» genannt hat: «Das Ereignis Auschwitz rührt an Schichten zivilisatorischer Gewißheit, die zu den Grundvoraussetzungen zwischenmenschlichen Verhaltens gehören. Die bürokratisch organisierte und industriell durchgeführte Massenvernichtung bedeutet so etwas wie die Widerlegung einer Zivilisation, deren Denken und Handeln einer Rationalität folgt, die ein Mindestmaß antizipatorischen Vertrauens voraussetzt; ein utilitaristisch geprägtes Vertrauen, das eine gleichsam grundlose Massentötung, gar noch in Gestalt rationaler Organisation, schon aus Gründen von Interessenkalkül und Selbsterhaltung der Täter ausschließt. Ein sozial gewachsenes Vertrauen in Leben und Überleben bedingende gesellschaftliche Regelhaftigkeit wurden ins Gegenteil verkehrt: Regelhaft war die Massenvernichtung – Überleben hingegen dem bloßen Zufall geschuldet.»
Die Ermordung der europäischen Juden war
der
Zivilisationsbruch, den die Nationalsozialisten am systematischsten und konsequentesten betrieben. Es begann mit massenhaften Erschießungen und endete mit den Massenvergasungen. Parallel zum Holocaust fanden andere deutsche Massenmorde statt, die, sofern man das Moment der «industriellen» Tötung nicht so stark betont wie Diner, ebenfalls als «Zivilisationsbrüche» einzustufen sind: Neben der von Hitler befohlenenErmordung von Geisteskranken die Ausrottung eines großen Teils der polnischen Eliten und die faktische Verurteilung von Millionen Weißrussen, Ukrainern, Russen und Angehörigen anderer Völker der Sowjetunion zum Hungertod. Die Zahl der Opfer unter der sowjetischen Zivilbevölkerung wird auf 15 Millionen geschätzt. In der Sowjetunion kam nach den Berechnungen des amerikanischen Historikers Timothy Snyder jeder fünfundzwanzigste Bewohner durch deutsche Hand um, in der Ukraine und in Polen jeder zehnte, in Weißrußland jeder fünfte. Zeitgleich mit den Juden wurden Hunderttausende von Sinti und Roma ermordet: ein Genozid, den die Nationalsozialisten zwar nicht so systematisch betrieben wie den Judenmord, aber nicht minder industriell als diesen.
Zivilisationsbrüche aus der Zeit vor 1939 waren der türkische Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg und die stalinistischen Kollektivmorde wie die an den Kulaken und, während des großen Hungers von 1932/33, des Holodomor, an den Bauern der Ukraine. In dieselbe Kategorie fiel die von Stalin angeordnete Verurteilung großer Teile von als national unzuverlässig
Weitere Kostenlose Bücher