Geschichte des Westens
Eine Zwischenstellung nahm Finnlands südlicher Nachbar Estland mit seiner «gelenkten Demokratie» ein.
Neben den meisten neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas wurden in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre auch viele der älteren europäischen Staaten diktatorisch regiert. Auf der Balkan- und der Pyrenäenhalbinsel gab es 1938 keine Demokratie mehr. Die Rückzugsgebiete der westlichen Demokratie waren Skandinavien, Großbritannien, Irland, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich und die Schweiz. Die Tschechoslowakei gehörte nur noch bis zu ihrer Zerschlagung durch das nationalsozialistische Deutschland im März 1939 zu dieser Staatengruppe.
Versucht man, die tieferen Ursachen der Entdemokratisierung in der Zwischenkriegszeit auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, solautet er in fast allen Fällen: gesellschaftliche und mentale Rückständigkeit. Die autoritären Rechtsdiktaturen hatten sich in überwiegend agrarisch geprägten Ländern durchgesetzt, in denen, vom Baltikum und Österreich abgesehen, große Teile der Bevölkerung des Lesens und Schreibens unkundig waren und die katholische oder die orthodoxe Kirche ein Machtkartell mit der traditionellen Oberschicht bildete.
In zwei Fällen greift die Formel «Rückständigkeit» aber zu kurz: in Italien und mehr noch in Deutschland. Beide Länder hatten vieles miteinander gemeinsam. Sie hatten ihre nationale Einheit erst spät, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erreicht und waren noch später zu Kolonialmächten geworden. Sie kannten ein krasses regionales Entwicklungsgefälle – in Italien zwischen Nord und Süd, in Deutschland zwischen West und Ost. Sie hatten vor 1914 lediglich eine Teildemokratisierung erlebt. Italien war zwar eine parlamentarische Monarchie, aber erst 1912 zum annähernd allgemeinen gleichen Wahlrecht übergegangen, und noch immer wirkte der Wahlboykott nach, mit dem der Vatikan auf die Aufhebung des Kirchenstaates im Jahr 1870 geantwortet hatte. In Deutschland galt zwar seit der Reichsgründung von 1871 das allgemeine gleiche Reichstagswahlrecht für Männer, eine parlamentarische Monarchie aber wurde das Kaiserreich erst im Oktober 1918, als sich die Einsicht in die Unabwendbarkeit der militärischen Niederlage durchsetzte.
Die ungleichzeitige Demokratisierung Deutschlands – frühe Demokratisierung des Wahlrechts, späte Parlamentarisierung des Regierungssystems – wirkte sich nach dem Ersten Weltkrieg darin aus, daß es in der Revolution von 1918/19 nur um
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Demokratie gehen konnte: um die Einführung des Frauenwahlrechts, die Demokratisierung des Wahlrechts in den Einzelstaaten und die volle Durchsetzung der parlamentarischen Regierungsweise. Versuche der äußersten Linken, eine «Diktatur des Proletariats» nach sowjetischem Vorbild zu errichten, wurden nur von einer Minderheit des Proletariats unterstützt und 1919/20 blutig niedergeworfen. Italien erlebte nach 1918 keine Revolution, wohl aber in Gestalt des «biennio rosso» 1919/20 revolutionäre Unruhen, die das parlamentarische Regierungssystem in eine schwere Krise stürzten. Im Deutschland der Weimarer Republik erschien die westliche Demokratie breiten bürgerlichen Schichten zunehmend als Staatsform der Sieger und damit als «undeutsches» Produkt der Niederlage. In Italien geriet der Westen in Mißkredit, weilihn die Rechte für einen angeblich «verstümmelten Sieg» (vittoria mutilata) verantwortlich machte, in dem das Land um die Früchte seines heroischen Kampfes gebracht worden sei. Ein antiwestliches Ressentiment stand mithin in beiden Ländern am Beginn der Auflehnung gegen die Demokratie.
Der Faschismus, der in Italien im Oktober 1922 mit tatkräftiger Hilfe der monarchischen Staatsspitze und bereitwilliger Duldung der bisher tonangebenden Liberalen an die Macht kam, etablierte ein System, wie es bis dahin in Europa unbekannt war. Es stützte sich auf paramilitärische Kräfte, die zuvor mit äußerster Gewaltsamkeit gegen die gespaltene Linke vorgegangen und dabei von den Großgrundbesitzern finanziell unterstützt worden waren. Die Machtübernahme Mussolinis bedeutete nicht etwa das Ende des Terrors, sondern seine staatliche Sanktionierung.
Der italienische Faschismus war die bislang radikalste Antwort auf den Bolschewismus und zugleich in mancher Hinsicht dessen Nachahmung. Was Unduldsamkeit gegenüber politischen und weltanschaulichen Gegnern anging, standen sich Faschisten und Kommunisten in nichts nach. Beide Regime
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