Geschichte des Westens
«Vorwärts» in Berlin tätige Theoretiker Rudolf Hilferding 1915 erstmals als «organisierten Kapitalismus» bezeichnete. Hilferding entwickelte damit seine 1910, im «Finanzkapital», veröffentlichte Lehre von der Beherrschung der monopolistisch organisierten Industrie durch wenige Großbanken weiter. Die «ungeheure Stärkung der Staatsmacht», die das Finanzkapital und seine Politik erzeugt hätten, habe die Tendenz, «die Anarchie der Produktion zu mildern» und enthalte «Keime zu einer Umwandlung der anarchisch-kapitalistischen in eine organisiert-kapitalistische Wirtschaftsordnung … Anstelle des Sozialismus erscheint eine Gesellschaft zwar organisierter, aber herrschaftlich, nicht demokratisch organisierter Wirtschaft möglich, an deren Spitze die vereinigten Mächte der kapitalistischen Monopole und des Staates stünden, unter denen die arbeitenden Massen in hierarchischer Gliederung als Beamte der Produktion tätig wären. Anstelle der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft durch den Sozialismus träte die den unmittelbaren Bedürfnissen der Klassen besser als bisher angepaßte Gesellschaft eines organisierten Kapitalismus.»
Diese Entwicklung gab, so Hilferding weiter, dem Kapitalismus eine Überlebenschance, die sich sogar als Alternative zum Sozialismus herausstellen konnte. Mit einer Niederlage des Proletariats war das nicht unbedingt gleichzusetzen. Dieses habe in dem Maß, wie es sich organisierte und für seine Belange zu kämpfen lernte, den Kapitalismus verändert und für sich erträglicher gemacht: «Die konterrevolutionären Wirkungen der Arbeiterbewegung haben die revolutionärenTendenzen des Kapitalismus geschwächt.» Der Übergang zu einer qualitativ neuen, sozialistischen Gesellschaft blieb zwar eine politische Aufgabe, aber nachdem die Arbeiterbewegung dem Kapitalismus die Verwirklichung seiner schlimmsten Verelendungstendenzen unmöglich gemacht hatte, fehlten offenbar wesentliche Voraussetzungen für eine revolutionäre Transformation der Gesellschaft im Sinne von Marx (und Lenin). Mit dem Umfang der von der Arbeiterklasse erkämpften Rechte stiegen auch, so durfte man Hilferdings bemerkenswert optimistische Analyse wohl interpretieren, die Aussichten für eine evolutionäre Verwirklichung des Sozialismus.
Was Hilferding auf den Begriff des «organisierten Kapitalismus» brachte, nannten andere Zeitgenossen «Staatssozialismus», «Kriegssozialismus» oder schlicht «Sozialismus». In allen kriegführenden Ländern, auch den liberalsten, griff der Staat nach 1914 regulierend und organisierend in das Wirtschaftsleben ein. Der britische Defence of the Realm Act vom August 1914, die Errichtung der Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium unter Leitung von Walther Rathenau, dem Präsidenten des Aufsichtsrates der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG), ebenfalls im August 1914, die Gründung von Kriegsindustriekomitees in Rußland im Mai 1915, die Errichtung erst, 1915, eines Staatssekretariats, dann, 1917, eines Ministeriums für Waffen und Munition unter General Alfredo Dallolio in Italien, die Schaffung des amerikanischen War Industries Board im Juli 1917 waren Beispiele für das Zusammengehen von Staat und Wirtschaft in den Kriegsjahren. Dabei wirkten aber nicht nur staatliche Instanzen auf die Unternehmungen, sondern umgekehrt auch diese auf politische Entscheidungen ein.
Die organisierte Arbeiterschaft wurde ebenfalls in die Kriegswirtschaft eingebunden: in Frankreich etwa durch die Berufung des Sozialisten Albert Thomas zum Staatssekretär für die Artillerie- und Munitionsbeschaffung im Mai 1915 und zum Rüstungsminister im Dezember 1916, in Deutschland durch das Vaterländische Hilfsdienstgesetz vom Dezember 1916. Auch im Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Staat gab es wechselseitige Beeinflussungen, wobei aber eines nicht in Frage gestellt werden durfte: die Unterordnung des Faktors Arbeit unter die Erfordernisse der Kriegswirtschaft. (In Frankreich wurden die Prioritäten besonders deutlich, als nach dem Ausscheiden der Sozialisten aus der Regierung im September 1917der Industrielle Louis Loucheur die Nachfolge von Albert Thomas als Rüstungsminister antrat.) Was von dieser Art von «Staatssozialismus» oder «Organisiertem Kapitalismus» den Krieg überleben würde, ließ sich, als Hilferding 1915 seinen Aufsatz zu Papier brachte, noch nicht absehen. Es war zudem durchaus zweifelhaft, ob, wie Hilferding und mit ihm viele
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