Geschichte des Westens
grundsätzlicher Beibehaltung der überkommenen Gesellschaftsordnung.
Die dritte Form von Umbruch erlebte in der Form des bloßen Staatsformwechsels nur Deutschland. Von Anfang an war klar, was die maßgebliche Kraft der Umwälzung, die Mehrheitssozialdemokratie, um jeden Preis vermeiden wollte: einen Bürgerkrieg, für den das bolschewistische Rußland ein abschreckendes Beispiel lieferte. Die Sozialdemokraten um Friedrich Ebert hörten, als sie sich an die Spitze der revolutionären Bewegung stellten, nicht auf, eine staatstragende Partei zu sein. Ihre Führer sprangen auf einen fahrenden Zug, dessen Lokomotive nicht besetzt war, und brachten ihn unter ihre Kontrolle. Hätte sich die Sozialdemokratie in diesem Augenblick anders verhalten, so würde sie ihren Zusammenhalt als Partei aufs Spiel gesetzt haben. Sie handelte aus Selbsterhaltungsinteresse und aus Verantwortungsbewußtsein gegenüber dem Ganzen.
Die Sozialdemokratie hatte die Revolution nicht entfesselt, aber ohne die Sozialdemokratie konnte es keine demokratische Revolution geben. Die Furcht vor Chaos und Bürgerkrieg war begründet und ebenso die Sorge, im Falle eines Bürgerkrieges würden die Alliierten intervenieren, Deutschland also zu einem Objekt der Sieger werden. Nur wenn die bei weitem größte deutsche Arbeiterpartei die Bewegung in geordnete Bahnen lenkte, konnte diese Gefahr gebannt werden. Es gelang den Führern der Sozialdemokratie, zu vermeiden, was sie fürchteten, aber sie erreichten nur wenig von dem, was sie erstrebten. Der Preis, den sie für die Ordnung zahlten, war hoch. Wenige Monate nach dem 9. November 1918 fiel es selbst großen Teilen der SPD schwer, sich in der Republik wiederzuerkennen, die aus dem Umsturz hervorgegangen war.
Eduard Bernstein, der «Vater des Revisionismus», der 1916 der USPD beigetreten, aber schon im Dezember 1918 in den Schoß der Mutterpartei zurückgekehrt war, hat 1921 in seinem Buch «Die deutsche Revolution, ihr Ursprung, Verlauf und Werk» mit als erster auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Komplexität und Angst vor einer gewaltsamen Umwälzung der bestehenden Verhältnisse hingewiesen: Je vielseitiger und arbeitsteiliger eine Gesellschaft gegliedert sei, desto weniger vertrage sie eine radikale Umbildung. Ein weiterer Grund der politischen Mäßigung in den Wochen nach dem 9. November 1918 lag Bernstein zufolge in der fortgeschrittenen Teildemokratisierung Deutschlands: Das Deutsche Reich kannte zwar bis zum Oktober 1918 keine parlamentarisch verantwortliche Regierung, wohl aber seit einem halben Jahrhundert das allgemeine gleiche Reichstagswahlrecht für Männer.
1918 konnte es folglich nur um mehr Demokratie gehen: um die Ausweitung des demokratischen Wahlrechts auf die Frauen und auf die Einzelstaaten bis hinunter zur Kreis- und Gemeindeebene sowie um die volle Parlamentarisierung des Regierungssystems. Die Sozialdemokraten, die entschiedensten Vorkämpfer einer Demokratisierung im Kaiserreich, hätten ihre Glaubwürdigkeit verloren, wären sie 1918 von dieser Linie abgewichen und zur orthodox marxistischen Parole vom «Klassenkampf» zurückgekehrt. Aus ebendiesem Grund setzte die MSPD dem Ruf «Alle Macht den Räten», der auf die Diktatur einer Minderheit hinauslief, ein klares und festes Nein entgegen.
Die gemäßigten Unabhängigen Sozialdemokraten, unter ihnen die Volksbeauftragten Hugo Haase und Wilhelm Dittmann sowie derTheoretiker Rudolf Hilferding, waren keine Gegner der Konstituante. Sie wollten die Wahlen nur später abhalten als die Mehrheitssozialdemokraten und die so gewonnene Zeit nutzen, um der Demokratie ein festeres soziales und politisches Fundament zu geben. Wie Hilferding es am 18. November 1918 im Parteiorgan «Freiheit» ausdrückte: «Die Demokratie muß so verankert werden, daß eine Reaktion unmöglich wird, die Verwaltung darf nicht zum Tummelplatz konterrevolutionärer Bestrebungen dienen. Vor allem aber müssen wir beweisen, daß wir nicht nur Demokraten, sondern auch Sozialisten sind. Die Durchführung einer Reihe wichtiger Übergangsmaßnahmen ist ohne weiteres möglich; sie müssen vollzogen werden, damit auch hier Stellungen geschaffen werden, die jedem kapitalistischen Gegenangriff uneinnehmbar sind.»
Für eine Politik der vorsorglichen Festlegung der parlamentarischen Demokratie sprachen gute Gründe; eine Hinauszögerung des Wahltermins aber folgte daraus nicht mit Notwendigkeit. So sah es auch die große Mehrheit der Delegierten
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