Geschichte des Westens
Weltkrieges. Ihre Niederlage war notwendig, damit das Unrecht der Teilungen von 1772, 1792 und 1795, soweit es denn möglich war, wieder gutgemacht werden konnte. Ein Weltkrieg als Voraussetzung der nationalen Befreiung Polens: Von Mickiewicz bis Piłsudski waren polnische Patrioten von diesem Zusammenhang überzeugt gewesen. Der Erste Weltkrieg hatte nicht um Polens willen begonnen. Aber der Ausgang des Krieges bedeutete für die Polen ein Stück ausgleichender Gerechtigkeit. Sie gewannen die Freiheit zurück, für die sie immer wieder, unter Napoleon und in den Erhebungen von 1830/31, 1848 und 1863, vergeblich gekämpft hatten. Wenn es so etwas wie einen Triumph der historischen Nemesis gab, dann erlebte ihn Polen im November 1918.[ 12 ]
Verspieltes Vertrauen und entgrenzte Gewalt:
Das Erbe des Ersten Weltkriegs
Mindestens 65 Millionen mobilisierte Soldaten, 8,5 Millionen Gefallene, über 21 Millionen Verwundete, 7,8 Millionen Kriegsgefangene und Vermißte, über 5 Millionen zivile Kriegstote in Europa ohne Rußland: Als der Erste Weltkrieg am 11. November 1918 mit dem Waffenstillstand von Compiègne zu Ende ging, hinterließ er tiefe Verstörungen bei Siegern und Besiegten. «La grande guerre» oder «the Great War», wie man diesen Krieg in Frankreich und England auch heute noch nennt, war von anderer Art gewesen als die europäischen Kriege des 19. Jahrhunderts. Die Zivilbevölkerung hatte zwischen 1914 und 1918 sehr viel mehr zu leiden gehabt als, beispielsweise, in den nationalen Einigungskriegen Italiens und Deutschlands zwischen 1859 und 1871. Ob freilich Hunger und Entbehrungen der Kriegszeit die unmittelbare Ursache dafür waren, daß zwischen 1918 und 1923 weltweit zwischen 25 und 50 Millionen Menschen, Zivilisten wie Soldaten, an einer Pandemie, der «spanischen Grippe», starben, ist nach neueren Forschungen durchaus strittig.
Der Erste Weltkrieg war der erste Krieg, in dem mit den Mitteln der modernen Technik Menschen massenhaft und anonym vernichtet wurden: durch Flammenwerfer und Gas, durch Torpedos von Unterseebooten und Bomben aus Flugzeugen. Die meisten Opfer forderte jedoch das Maschinengewehr, das erstmals im Amerikanischen Bürgerkrieg der Jahre 1861 bis 1865 und danach in Kolonialkriegen in Afrika zum Einsatz gekommen war. Der Schrecken der automatischen Waffen wirkte bei den Überlebenden ebenso nach wie die Faszination, die von der Entdeckung ausging, was Masse und Technik vermochten, wenn man ihnen gestattete, die Fesseln der Zivilität abzustreifen.
Es gab nicht nur
ein
Kriegserlebnis, sondern viele. Die Soldaten hatten den Krieg anders erfahren als die Zivilisten, die Front anders als die Etappe, Akademiker anders als «einfache» Menschen, Männer anders als Frauen, Frauen, die an Stelle Kriegsdienst leistender Männer in Fabriken oder Büros arbeiteten, anders als Frauen, die nicht erwerbstätig waren, Erwachsene anders als Jugendliche und Kinder. Wie jemand den Krieg wahrnahm und rückblickend bewertete, hing auch vom jeweiligen politischen Standort ab. Wer sich schon 1914 der«Kriegsbegeisterung» verweigert hatte oder durch den Krieg zum Kriegsgegner geworden war, konnte sich 1918 auf die radikalste aller linken Positionen stellen und den Krieg mit dem Bürgerkrieg beantworten, um die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu beseitigen, aus der der «imperialistische» Krieg vermeintlich hervorgegangen war. Wer den Krieg als Naturnotwendigkeit bejahte und bis zuletzt daran festhielt, daß das eigene Land stets im Recht war, der war kaum bereit, eine Niederlage als endgültig zu akzeptieren; der Friede konnte für ihn nicht mehr sein als ein Zwischenspiel bis zum nächsten bewaffneten Kampf zwischen den Völkern. Diese Position, die der äußersten Rechten, war 1918 ebenso wie die der extremen Linken eine Minderheitsmeinung. Die große Mehrheit in allen Ländern hatte genug vom Krieg, ohne deswegen schon zum grundsätzlichen Pazifismus bekehrt zu sein. Wie dauerhaft der Friede sein würde, das hing vor allem davon ab, als wie gerecht oder ungerecht er empfunden wurde.
Völker, die dem Ersten Weltkrieg die ersehnte nationale Unabhängigkeit verdanken, die Polen etwa, die Finnen oder die Tschechen, blicken auf diesen Krieg mit anderen Gefühlen zurück als Deutsche, Franzosen oder Briten, die beim Ersten Weltkrieg vor allem an das grauenhafte Massensterben auf den Schlachtfeldern Flanderns und Nordfrankreichs und daran denken, daß auf den Ersten zwei Jahrzehnte später der
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