Geschichte des Westens
Zweite Weltkrieg folgte. Das berühmte Wort des amerikanischen Historikers und Diplomaten George F. Kennan vom Ersten Weltkrieg als «
der
Urkatastrophe dieses Jahrhunderts» (
the
great seminal catastrophe of this century) spiegelt so etwas wie die herrschende Meinung in den einstigen Mittel- und Westmächten wider. Aber es ist keine Formel, über die es im Europa der Gegenwart Konsens gibt.
Je länger der Krieg dauerte, desto weniger genossen die Parlamente, vom britischen Unterhaus und dem amerikanischen Kongreß einmal abgesehen, das Vertrauen der breiten Massen. Tatsächlich verloren die gewählten Volksvertretungen in den meisten kriegführenden Ländern nach 1914 an Einfluß. Der österreichische Reichsrat durfte zwischen März 1914 und Mai 1917 nicht zusammentreten; die französische Deputiertenkammer tagte bis ins Spätjahr 1917 nichtöffentlich; der nur noch selten einberufenen italienischen Kammer wurde die Kontrolle über die Verwendung der von ihr bewilligten Mittel verwehrt; Haushaltsdebatten fanden nicht mehr statt. Die Machtkonzentration beider Exekutive (in Deutschland vor allem bei der militärischen in Gestalt der Obersten Heeresleitung) förderte keineswegs das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen. Die Behörden wurden verantwortlich gemacht für Versorgungsmängel, Teuerung und Schleichhandel; die allgegenwärtige Zensur nährte den Glauben an Gerüchte; die Justiz mußte mehr noch als in Friedenszeiten mit dem Argwohn leben, daß im Zweifelsfall vor dem Gesetz doch nicht alle gleich seien.
Langfristig mit am gefährlichsten war, daß das Vertrauen in die Stabilität der Währung Schaden nahm. In allen kriegführenden Ländern stieg die Staatsverschuldung gewaltig an. Die europäischen Westmächte konnten ihre Kriegsanstrengungen nur durch Kredite aus den USA finanzieren. (Die Sorge um die Rückzahlung dieser Gelder dürfte einer der Gründe gewesen sein, weshalb Präsident Wilsons Entscheidung für den Kriegseintritt Amerikas innenpolitisch nicht besonders umstritten war.) In der Erwartung eines Sieges des eigenen Landes nahmen alle Staaten bei ihren Bürgern Kriegsanleihen auf, in besonders großem Umfang Deutschland. Die Reichsbank stellte überdies bereits im August 1914 Schatzanweisungen und Schatzwechsel des Reiches, reine Finanzwechsel also, den Handelswechseln gleich und zog sie wie diese neben Gold zur Deckung der Reichsmark heran. Der Geldschöpfung der Reichsbank waren seitdem faktisch keine Grenzen mehr gesetzt; die Kriegsanleihen hätten nur noch durch Reparationen der Kriegsgegner zurückgezahlt werden können. Ähnlich inflationär wirkte die massive Emission von Papiergeld durch die österreichisch-ungarische Notenbank.
Die Abkehr vom Währungssystem der Vorkriegszeit war ebenso allgemein wie radikal. In den Worten des deutschen Wirtschaftshistorikers Wolfram Fischer: «Der Goldstandard mit seinen gesetzlich festgelegten Paritäten hatte für die private Wirtschaft stabile Rahmenbedingungen gesetzt. Diese gingen nun verloren. In der Binnenwirtschaft mußte man sich an steigende Inflationsraten gewöhnen, in der Außenwirtschaft an Devisenkontrollen und -zuteilungen, ja an In- und Exportverbote. Gleich bei Kriegsbeginn suspendierten die meisten Länder die Goldeinlösungspflicht der Zentralbanken – nur Großbritannien hielt sie formal bei, erschwerte sie jedoch – und verboten die Goldausfuhr, wiederum mit Ausnahme Großbritanniens, wo sie allerdings ebenfalls praktisch zum Erliegen kam. Frankreich erlaubte sie noch bis zum Juli 1915 unter erschwerten Bedingungen … Der Außenhandel,der vor dem Krieg ganz in den Händen privater Firmen gelegen hatte, wurde mehr und mehr eine Sache von zwischenstaatlichen Abmachungen, insbesondere Kreditverträgen, bei denen zunehmend nicht private Bankiers, sondern Zentralbanken und staatliche Schatzämter, erst das britische später vor allem das amerikanische, als Kreditgeber auftraten. Das internationale Kreditgeschäft geriet damit aus privaten in öffentliche Hände und wurde politisiert. Das sollte nach dem Krieg erhebliche Auswirkungen haben.»
Die faktische Verstaatlichung des Außenhandels, zu einem guten Teil eine Folge der drastischen Veränderung der internationalen Handelsströme durch die britische Seeblockade gegen Deutschland und den deutschen U-Boot-Krieg, war nur ein besonders krasses Beispiel für das, was der marxistische, 1877 in Wien geborene, seit 1907 als Redakteur des sozialdemokratischen
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