Geschichte des Westens
Sozialdemokraten es erwarteten, eine staatliche Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft im Stil des Kriegssozialismus den Kapitalismus weniger krisenanfällig machen würde, als er es vor 1914 gewesen war.
Von allen Erfahrungen der Kriegsjahre war die am meisten erschreckende wohl die, wie rasch die gewohnten Normen des bürgerlichen Lebens ihre Gültigkeit verlieren konnten. Die Tötung Tausender belgischer Zivilisten und die Zerstörung des mittelalterlichen Löwen durch deutsche Soldaten im Spätsommer und Frühherbst 1914, die Tötung von mindestens 1000 serbischen Zivilisten durch ungarische Regimenter im September 1914, der erste Einsatz von Giftgas durch deutsche Truppen bei Ypern im April 1915, die Massendeportationen von Polen, Letten, Litauern und Juden durch die russische Armee und der Völkermord an den Armeniern des Osmanischen Reiches im Jahr 1915: die Zahl der Überschreitungen dessen, was in einem Krieg als «normal» galt, war gewaltig.
Die Grausamkeiten der beiden Balkankriege von 1912/13 waren vielen «zivilisierten» Europäern noch als balkanische oder orientalische Greuel erschienen. Seit 1914 zeigte sich, daß auch Völker, die an der Aufklärung teilgehabt hatten, im Krieg gegen andere Europäer zu barbarischen Akten fähig waren, wie sie sie bisher nur gegenüber Kolonialvölkern begangen hatten. Im November 1914, eineinviertel Jahre bevor er am 4. März 1916 vor Verdun fiel, verfaßte der deutsche expressionistische Maler Franz Marc einen Essay unter dem Titel «Das geheime Europa». Was die Nationalisten aller Länder über den Krieg behaupteten, war für ihn eine Lügengespinst. Er glaubte an einen tieferen, den Handlungen verborgenen Sinn des Krieges, den auch er für eine historische Notwendigkeit hielt: «In diesem Krieg kämpfen nicht, wie es in den Zeitungen steht und wie die Herren Politiker sagen, die Zentralmächte gegen den äußeren Feind, auch nicht eine Rasse gegen die andere, sondern dieser Großkrieg ist ein
europäischer Bürgerkrieg, ein Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes
.»
Ausfechten mußten diesen Krieg aber schon vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika nicht nur Europäer. Die großen Kolonialmächte setzten auch in Europa Truppen aus Übersee ein, Frankreich vor allem solche aus Nordafrika, wobei allein 175.000 Mann aus Algerien kamen, das freilich formell keine Kolonie, sondern ein Teil des Mutterlandes war. Auf der Seite Großbritanniens kämpften neben 500.000 Kanadiern, 332.000 Australiern und 112.000 Neuseeländern, meist Freiwilligen britischer Herkunft, an allen Fronten auch 1,5 Millionen Angehörige der indischen Freiwilligenarmee sowie 90.000 Chinesen, die im britischen Weihaiwai rekrutiert worden waren und in Frankreich Schützengräben für die Alliierten ausheben mußten. Gleichermaßen unfreiwillig leisteten die ungezählten schwarzafrikanischen Träger Kriegsdienst, von denen schätzungsweise 100.000 in den Kämpfen um Deutsch-Ostafrika getötet wurden.
Die äußerste Entgrenzung der Gewalt auf dem europäischen Kontinent brachte nach 1917 der russische Bürgerkrieg, der ohne den Weltkrieg nicht möglich gewesen wäre und in vieler Hinsicht seine Fortsetzung mit nur teilweise anderen Mitteln bildete. Das Denken in den Kategorien von Freund und Feind, von Selbstbehauptung und Vernichtung richtete sich nunmehr vorrangig gegen den inneren Gegner, dem eine zumindest «objektive» Komplizenschaft mit dem äußeren Gegner nachzuweisen meist keiner besonderen Anstrengung bedurfte. Der Umschlag des Völkerkrieges in den Bürgerkrieg blieb nicht auf Rußland beschränkt: Er wurde zum Signum der Epoche, die mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 begann.[ 13 ]
2.
Vom Waffenstillstand zur Weltwirtschaftskrise:
1918–1933
Die gebremste Revolution:
Deutschland auf dem Weg in die Weimarer Republik
Europa erlebte gegen Ende des Ersten Weltkrieges drei verschiedene Arten von Umbrüchen: erstens die nationalrevolutionäre Auflösung von Vielvölkerreichen, nämlich des russischen, des habsburgischen und des osmanischen, von denen nur eines, das russische, in radikal veränderter Form, als Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, wiedererstehen sollte; zweitens sozialrevolutionäre Umwälzungen, von denen nur eine, die der Bolschewiki, langfristigen Bestand hatte; drittens die revolutionäre Umgründung eines bestehenden Staates durch Übergang von der Monarchie zur Republik unter
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