Geschichte des Westens
Linker wie Bissolati wollte die Grenze zu Österreich knapp nördlich von Bozen ziehen und strebte an der Ostseite der Adria den Besitz von Görz (Gorizia) und Istrien sowie einen Grenzverlauf gegenüber dem südslawischen Staat nahe Triest an; Fiume sollte den Status einer freien Stadt unter italienischem Schutz erhalten, auf Dalmatien aber ansonsten weitgehend verzichtet werden. Da er sich mit diesem vergleichsweise maßvollen Programm gegenüber Sonnino nicht durchsetzen konnte, trat Bissolati von seinem Amt als stellvertretender Ministerpräsident zurück. Kurz darauf, am 4. Januar 1919, bat auch Nitti um seine Entlassung. Aus Rücksicht auf Wilsons Staatsbesuch, der einen Tag zuvor begonnen hatte, blieb er dann auf Bitten Orlandos noch bis zum 15. Januar im Amt. Dem Kabinett gehörten zwar auch danach noch gemäßigte linke Minister, darunter der Reformsozialist Ivanoe Bonomi, an. Aber die Rechte ging aus der Regierungskrise um die Jahreswende 1918/19 stärker hervor, als sie zuvor gewesen war.
Wilson wurde während seines Italienbesuches, wo immer er sich auf Straßen und Plätzen zeigte, in Rom nicht anders als in Mailand, von der Menge bejubelt. Er sprach nicht nur mit Orlando und Sonnino, die ihm beide borniert erschienen, sondern auch mit Bissolati und Luigi Albertini, dem liberalen Herausgeber des Mailänder «Corriere della Sera». Die entschiedensten «Wilsonianer» waren auch in Italien Politiker der Linken, darunter die parlamentarischen Führer der Sozialisten, an ihrer Spitze Filippo Turati und Claudio Treves, die trotz ihres Neins zum Kriegseintritt Italiens die Kriegsanstrengungen des Königreichs, wenn auch ohne alle Begeisterung, mitgetragen hatten. Die Sozialistische Partei als Organisation und ihre Funktionäre aber waren seit 1917 unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution nach links gerückt. Seit dem Parteikongreß in Rom vom September 1918 beherrschten die linken «Maximalisten» unter Giacinto Serratidie Parteiführung. Sie propagierten als Ziele die Errichtung der sozialistischen Republik und die Diktatur des Proletariats, verweigerten folgerichtig auch die Teilnahme an der Berner Konferenz der Zweiten Internationale. Wilson war für sie ein bürgerlicher Politiker, dem das Proletariat mit der gebotenen Zurückhaltung und Vorsicht zu begegnen hatte.
Unter den bürgerlichen «Wilsonianern» war der markanteste der katholische Priester Don Luigi Sturzo, ein Sizilianer, der im Januar 1919 mit Zustimmung des Vatikans den Partito Popolare Italiano, eine christlich-demokratische Partei, gründete. Sie unterstützte in ihrem Programm Wilsons Idee eines Völkerbundes und forderte einschneidende soziale Reformen, eine Verbesserung der Lebensbedingungen des Mezzogiorno und das Frauenstimmrecht. Sie bezog damit Positionen, die denen Bissolatis nahe kamen. Dieser wurde im Januar 1919 immer mehr zur Zielscheibe heftiger Angriffe Benito Mussolinis und seines «Popolo d’Italia». Aus Sicht der nationalistischen Rechten war Bissolati der gefährlichste unter den «Verzichtspolitikern», den «rinunciatori». Eine Veranstaltung des Reformsozialisten in der Mailänder Skala wurde von Mussolini und seinen Anhängern, darunter der Futurist Filippo Tommaso Marinetti, durch Zwischenrufe und Sprechchöre so massiv gestört, daß Bissolati kaum zu Wort kam.
Kurz darauf, am 15. Januar 1919, veröffentlichte der Dichter Gabriele D’Annunzio im «Popolo d’Italia» einen «Offenen Brief an die Dalmatiner»: ein Manifest des Irredentismus, das, weil es mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht zu vereinbaren war, in eine Kampfansage an die «Wilsonianer» aller Länder, besonders die des eigenen, mündete. D’Annunzio nannte Italien die siegreichste aller Nationen, weil es siegreich über sich selbst und die Feinde sei. Italien dürfe sich keinen gallischen, keinen britischen und keinen amerikanischen Frieden aufnötigen lassen. Es werde vielmehr über die Alpen und die See eine «Pax Romana» errichten. «Wenn nötig, werden wir dem neuen Ränkespiel nach Art der Arditi entgegentreten, eine Granate in jeder Hand und ein Messer zwischen den Zähnen.» Die «Arditi» waren ein freikorpsartiger Verband ehemaliger Elitesoldaten. Am 16. April 1919, dem Tag eines von den sozialistischen Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreiks, stürmten sie das Gebäude der sozialistischen Zeitung «Avanti» in Mailand, steckten es in Brand, provozierten dabei Zusammenstöße, bei denen es fünf Tote
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