Geschichte des Westens
zuschlug, ebenso die schon vorher erfolgte Festlegung der Verbündeten auf einen tschechoslowakischen Staat, der ganz Böhmen und Mähren, also auch dessen deutschsprachige Gebiete, umfassen sollte.
Die Rechte der nationalen Minderheiten, wie der Deutschen und der im slowakischen Landesteil lebenden Ungarn, gedachten die Westmächte durch einen Minderheitenschutzvertrag mit der Tschechoslowakei zu sichern, der am gleichen Tag unterzeichnet wurde wie der Friedensvertrag mit Österreich: am 10. September 1919. Bei der Regelung zweier anderer Grenzfragen gab es Volksabstimmungen: im Oktober 1920 in Kärnten, das zuvor einen heftigen deutsch-slowenischen Nationalitätenkampf samt einer Intervention serbischer Truppen erlebt hatte und als Ganzes bei Österreich blieb, und im Dezember 1920 in Ödenburg, auf ungarisch Sopron, das sich für Ungarn entschied. Die an Österreich grenzenden, deutsch besiedelten Teile Westungarns kamen hingegen auf italienisches Drängen hin zu Österreich, wo sie fortan das Bundesland «Burgenland» bildeten. Dem von tschechischen und südslawischen Nationalisten angestrebten, auf kroatische Streusiedlungen im westlichen Ungarn gestützten «slawischen Korridor» zwischen der Tschechoslowakei und dem neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen war damit ein Riegel vorgeschoben.
Der Friede mit Ungarn wurde am 4. Juni 1920 in Trianon abgeschlossen. Aus dem Nationalitätenstaat, der das Königreich Ungarn gewesen war, wurde infolge der erzwungenen Gebietsabtretungen an Rumänien, die Tschechoslowakei und Jugoslawien ein fast rein magyarischer Nationalstaat, in dem aber längst nicht alle ethnischen Magyaren lebten: Insgesamt 3,5 Millionen von ihnen wurden zu Bürgern der genannten drei Nachbarstaaten. Ungarn büßte nun auch de jure zwei Drittel seines historischen Territoriums und seiner Bevölkerung ein: ein Verlust, der viel schwerer wog als die Verkleinerung des Staatsgebietes, die der Vertrag von Versailles Deutschland zumutete. Die leicht vorhersehbare Folge war ein radikaler, auf die Revision des Vertrages auf Trianon ausgerichteter Nationalismus, der die Geschichte Ungarns in der Zwischenkriegszeit prägen sollte.
Verglichen mit Ungarn erschienen die Gebietsverluste, die Bulgarien hinnehmen mußte, weniger dramatisch. Der Friedensvertrag von Neuilly, der am 27. November 1919 unterzeichnet wurde, bedeutete für Bulgarien nicht nur die Preisgabe aller Gebiete, die es im Ersten Weltkrieg erobert hatte. Es hatte fortan auch keinen Zugang mehr zur Ägäis: Das fragliche Gebiet, Südthrakien mit dem Hafen Dedeagatsch, auf griechisch Alexandropolis, kam zunächst unter die Kontrolle der Alliierten, die es dann, im April 1920, im Vertrag von San Remo, Griechenland übergaben. Zwischen der Türkei und Bulgarien wurde für die ethnisch gemischten Gebiete ein wechselseitiger Bevölkerungsaustausch vereinbart.
Das bulgarische Territorium verkleinerte sich durch den Vertrag von Neuilly von 114.000 Quadratkilometern im Jahr 1915 auf nunmehr 103.000 Quadratkilometer. Das Königreich durfte künftig nur noch ein kleines Heer von 10.000 Mann unterhalten; es mußte Reparationen in Höhe von 2,25 Milliarden Goldfrancs zahlen. Unterzeichnet wurde der Friedensvertrag von einer vom Bauernbund geführten Koalitionsregierung unter Alexander Stambolijski, der auch die Sozialisten angehörten. Der Bauernbund blieb in den ersten Nachkriegsjahren die stärkste Kraft in dem noch ganz überwiegend agrarisch geprägten Land. Die stärksten Widersacher der größten Partei waren auf der Linken die Kommunistische Partei, die sich eines wachsenden Rückhalts bei den ärmeren Bauern erfreute, und auf der Rechten die Armee, die wichtigste Verbündete aller auf die Revision des Vertrags von Neuilly drängenden Kräfte.
Am längsten zog sich der Abschluß des Friedens mit der Türkei hin. Der Waffenstillstand von Mudros, der am 30. Oktober 1918 abgeschlossen worden war, erwies sich nur als kurzes Intermezzo. Mitte Mai 1919 landeten griechische Truppen mit britischer Unterstützung und ausgestattet mit einem Mandat des Obersten Rates der alliierten und assoziierten Mächte in Paris in Smyrna, auf türkisch Izmir, wo sie ein furchtbares Blutbad unter den einen «Fez» tragenden Bewohnern anrichteten, und begannen von dort aus mit einer Invasion in Westanatolien. Die Truppen, die kurz zuvor noch einer von Frankreich geführten antibolschewistischen Interventionsstreitmacht in Südrußland angehört
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