Geschichte machen: Roman (German Edition)
manövrierte.
»Fahren Sie den Gang hinunter bis ans Ende. Dort biegen Sie links ab und fahren durch die Tür die Zufahrt hinab in den Garten. Falls Sie Hilfe brauchen, drücken Sie auf den Knopf an der Armstütze.«
Axel versuchte, die Konversation zu eröffnen, indem er eine Bemerkung über die Schönheit der Landschaft und des Sees machte, aber sein Vater schnitt ihm das Wort ab.
»Da lang, Axel. Schieb mich da lang. An der Libanonzeder vorbei zum See runter, da ist ein Weg, der nie benutzt wird.«
Wie gewünscht, schob Axel seinen Vater über den Rasen und an der Zeder vorbei. Er nickte Pflegern und treusorgenden Familienangehörigen zu, die sich überall genau wie er um Heimbewohner kümmerten. Auf einer Bank saß ein alter Mann im Schlafanzug und führte Selbstgespräche. Axel sah amüsiert, daß er ein gutes Dutzend Orden an der Schlafanzugjacke befestigt hatte.
»Hier. Hier entlang. Da sind wir ungestört«, sagte sein Vater und beugte sich im Rollstuhl vor, damit sie schneller vorankamen.
Axel folgte seinen Anweisungen und schob ihn den Weg entlang auf eine Öffnung in der buntscheckigen, streng geschnittenen Hecke zu. Sie gelangten in einen kleinen, hufeisenförmigen Blumengarten.
»Dreh den Rollstuhl so herum, daß wir den Eingang im Auge haben«, sagte sein Vater. »So, und jetzt setzt du dich auf die Bank. Dann merken wir rechtzeitig, wenn jemand kommt.«
»Brennt dir die Sonne auch nicht zu sehr? Vielleicht sollte ich dir lieber einen Hut holen.«
»Die Sonne ist mir schnurz. Ich liege im Sterben. Das haben sie dir doch wohl gesagt. Was soll ein Sterbender denn noch mit einem Hut?«
Axel nickte. Das war einleuchtend.
»Nach meinem Tod erbst du meinen Titel, das ist dir doch klar?«
»Damit habe ich mich noch nicht weiter beschäftigt, Papa.«
»Lügner! Ich könnte wetten, daß du jahrelang an nichts anderes gedacht hast. Ich möchte dir erklären, was dieser Titel bedeutet.«
»Er ist eine Auszeichnung für die Dienste, die du dem Reich erwiesen hast.«
»Ja, ja. Aber das meine ich nicht. Du hast keine Ahnung, warum der Führer mich damit ausgezeichnet hat, oder?«
»Nein, Papa.«
»Niemand weiß das, und wenn es jemand wußte, dann ist er längst tot und hat das Geheimnis mit ins Grab genommen. Aber wenn ich dir diesen Titel hinterlasse, dann ist es nur recht und billig, daß du auch erfährst, wie er erworben wurde, nicht wahr? Du erbst schließlich kein Land, sondern nur eine Geschichte. Also sitz still und hör zu. Hast du gelernt stillzusitzen?«
»Ich glaube ja, Papa.«
»Gut. Kannst du mir eine Zigarette geben?«
»Ich rauche nur Pfeife, Papa, und die liegt in meiner Tasche im Hotel.«
»Schade, ich hatte mich so auf eine Zigarette gefreut.«
»Soll ich dir eine Schachtel besorgen?«
»Nein, nein. Bleib sitzen. Das spielt keine Rolle mehr. In meinem Alter verschafft die Vorstellung mehr Vergnügen als die Wirklichkeit. Aber im Tisch hinten an meinem Rollstuhl findest du eine Flasche Schnaps.«
»In der Tasche, meinst du.«
»Ja, ja. In der Tasche, das sag ich doch.«
Ist ja auch egal, dachte Axel. »Tasche« und »Tisch« waren schließlich recht ähnliche Wörter. Wenn die Senilität nicht schlimmer wurde, war das Altern wohl zu verkraften.
Er fand die Flasche, schraubte den Deckel ab und reichte sie seinem Vater, der einen kräftigen Schluck trank und sie mit tränenden Augen zurückgab. »Sitz still und hör zu. Red nicht dazwischen, sondern hör einfach zu. Die Geschichte, die ich dir erzählen werde, kennen nur sehr wenige Menschen auf der Welt. Sie ist ein Geheimnis. Ein sehr großes Geheimnis. Hast du das verstanden?«
Axel nickte.
»Alles beginnt vor genau hundert Jahren in einer österreichischen Kleinstadt namens Braunau am Inn. Hast du schon mal von Braunau gehört?«
Axel schüttelte den Kopf.
»Ha! Hätte mich auch gewundert. Das ist bestimmt immer noch dasselbe verschnarchte Kaff wie damals, als es sich kaum von anderen Kleinstädten in jenem Teil des Habsburgerreichs unterschied. Braunau war damals ein verschlafenes Provinznest, und das ist es garantiert heute noch. Dort war nie etwas los. Das Leben ging seinen gewohnten Gang. Geburt, Ehe, Tod, Geburt, Ehe, Tod. Die Geschichte ging daran vorbei.
Bis vor hundert Jahren ein Arzt in dieser Kleinstadt eine Entdeckung machte, eine beispiellose Entdeckung, die die Welt verändern sollte. Dieser Arzt hatte davon natürlich keine Ahnung. Sein Name war Horst Schenck, aber das nur am Rande. Weißt du, er war
Weitere Kostenlose Bücher