Geschichte machen: Roman (German Edition)
Reich heimfand.
Das neugeschaffene Reichswissenschaftsministerium beschlagnahmt unverzüglich das Tagebuch und die Wasserprobenund verdonnert alle Beteiligten zu strikter Geheimhaltung. Die Wissenschaftler fallen über die Wasserflaschen her wie Löwen über Antilopen. Sie analysieren es, testen es, bombardieren es mit Strahlen, zentrifugieren es, bringen es in Vibratoren zum Vibrieren, verdampfen es in Evaporatoren und verdichten es wieder in Kondensatoren, mischen es, kochen es, trocknen es, frieren es ein, kurz, sie tun alles, um sein quälendes Geheimnis zu lüften.
Weißt du, der Führer wußte genau, welche Bedeutung das Braunauwasser für die Sicherheit des Reichs bekommen konnte. Die ruhmreichen Männer im Göttinger Institut erträumten ihm zwar eine Bombe, aber wer wußte denn, ob die funktionieren würde? Er brauchte eine Rückversicherung. Wenn man den Bolschewismus nicht auf die eine Art ausrotten konnte, dann vielleicht auf die andere. Das war die Mentalität, die dahintersteckte.
Nun, bekanntlich produzierte Göttingen letztendlich das Gewünschte, die Bombe ward geboren, und tschau Moskau, bis die Tage Leningrad. Die Freiheit nicht nur des Reichs war gesichert, sondern die ganz Europas. Das alles steht in den Geschichtsbüchern.
Aber unterdessen setzten zwei überragende Männer in Münster die Arbeit an dem vermaledeiten Braunauwasser fort. Du kannst dir denken, daß die beiden dein Patenonkel Johann Kremer und dein alter Herr waren. Wir hatten Zugang zu allen früheren Forschungsergebnissen bekommen, von Schencks altem Tagebuch bis hin zu den letzten Analysen dieser deprimierenden Brühe. Das Tagebuch steckt hinten im Tisch meines Rollstuhls. In der
Tasche
, der
Tasche
meines Rollstuhls. Nimm es heraus.«
Axel holte das Tagebuch heraus, einen alten Lederband mit Stockflecken und Eselsohren, der von einer Messingschnalle zusammengehalten wurde.
»Dieser Band enthält die Aufzeichnungen der Jahre 1886 bis 1901. Das meiste davon ist zähe Lektüre. Aber nimm esruhig mit. Niemand weiß, daß ich es die ganze Zeit bei mir hatte. Nimm es. Du kannst es behalten.«
»Ich werde es behalten«, versprach Axel ihm. Sein Vater hörte sich plötzlich fast hysterisch an, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
»Ich war es, nicht Kremer, der dem Braunauwasser sein Geheimnis entriß. Wir waren Kollegen, ich arbeitete natürlich unter seiner Regie, aber ich war es, der die spermizide Komponente schließlich isolierte und synthetisierte. In der organischen Materie der Zisterne mußte es auf unerklärliche Weise zu dem gekommen sein, was wir heute eine spontane genetische Mutation nennen – nur steckte die Genetik damals noch in den Kinderschuhen. Die Substanz veränderte das Genom auf so komplexe Weise, daß es kein Wunder war, wenn ganze Ärztegenerationen daran verzweifelt waren, seine Funktion zu begreifen. Was dabei im einzelnen geschah, habe auch ich erst sehr viel später verstanden. Aber ich konnte die Wirksubstanz synthetisieren, und das war das wichtigste. Es war brillante Arbeit, einfach brillant. Und ihrer Zeit um Jahre voraus.«
Axel starrte seinen Vater an, dessen wäßrige Augen strahlten. Seine Hände verkrampften sich im Schoß, jeder Fingerknöchel trat hervor und schimmerte durch die gelbliche Haut.
»Der Führer war entzückt! Geradezu berauscht! Ich hatte ihn freilich schon früher kennengelernt. Er hatte das Institut für medizinische Grundlagenforschung an der Universität Münster höchstpersönlich eröffnet und eine seiner berühmten Reden über Wissenschaft und Natur gehalten. Aber da hatte er mir nur in einer langen Schlange die Hand gedrückt. Diesmal … oh, dieses Mal! Da wurde uns ein Auto zur Verfügung gestellt, eine von den schwarzen DW2-Limousinen, weißt du noch? Wir wurden nach Berlin chauffiert, direkt in die Reichskanzlei und verbrachten dort vier Stunden ganz allein mit dem Führer, Reichsminister Himmler und ReichsministerHeydrich. Nur diese drei, Kremer und ich. Stell dir das mal vor! Danach gab es ein Bankett mit Tanz und Musik. Welch ein Tag! Kannst du dich noch daran erinnern? Ich habe dir damals Geschenke und ein Photo des Führers mit Widmung mitgebracht.«
Und ob sich Axel erinnerte.
Für Axel Bauer – mögest Du ein ebenso großer Mann wie Dein Vater werden! Rudolf Gloder.
Das mußte er noch irgendwo haben. Wahrscheinlich in einem Koffer in Cambridge.
Axel konnte sich auch noch erinnern, wie er auf der Sofalehne gestanden, das Gesicht an die Scheibe des
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