Geschichte machen: Roman (German Edition)
ausnahmslos dieselbe sterile Samenflüssigkeit. Bei der Kontrolluntersuchung der Männer auf der Ostseite stellt sich heraus, daß deren Spermienzahl völlig normal ist. Was sagst du dazu?«
Axel war leicht angewidert von der hämischen Schadenfreude und dem zotigen Vergnügen, die die Erzählung seines Vaters begleiteten, und zuckte die Schultern. »Wird am Boden gelegen haben. Oder an der Wasserversorgung. Irgendein Spermizid …«
»Genau! Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock. Auch unser Held, der fade Doktor Schenck, begreift sofort, daß die Antwort in einer dieser Richtungen zu suchen sein muß. Die Erklärung, die als erstes ins Auge springt und die sich auch als die richtige herausstellen wird, ist die Wasserversorgung.Schenck entdeckt, daß sich ein Hauptrohr am Ende der Straße teilt und eine Zisterne auf der Ostseite und eine auf der Westseite speist. In den Gärten hinter ihren Häusern pumpen die Einwohner das Wasser dann von Hand hoch.
Schenck entnimmt sofort auf beiden Straßenseiten Wasserproben, testet sie an Schweinen und benachrichtigt daraufhin unverzüglich und äußerst beunruhigt das Gesundheitsamt in Innsbruck. Es gibt einen sehr amüsanten Tagebucheintrag, der nur aus den fahrigen Beschönigungen des 19. Jahrhunderts besteht und in dem Schenck beschreibt, wie schwierig es war, die Eber dazu zu bringen, Samen für die Untersuchung herauszurücken. Der arme Kerl war schließlich kein Tierarzt, nich’? Gib mir noch mal den Schnaps.«
Axel gab ihm die Flasche und wunderte sich wieder einmal über die Vulgarität der älteren Generation. Die »Gründergeneration« hatte sie sich selber genannt. Sie hatten keine Zeit für die euphemistische Prüderie der heutigen Jugend gehabt. »Die Sprache eines echten Nazi braucht keine Seide«, hatte Gloder immer gesagt. Außer natürlich in Anwesenheit von Damen … da waren Takt und Feingefühl das Nonplusultra.
»So«, sagte der alte Mann und leckte sich den Schnaps von den Lippen, »da hast du’s. Von dem Tag an holten sich die Haushalte auf der westlichen Straßenseite ihr Wasser bei den gesunden Nachbarn im Osten. Wenige Jahre später wurden alle Haushalte an eine direkte Wasserversorgung angeschlossen, und ab sofort war Ruhe im Karton. Ein neuer Ausbruch männlicher Sterilität ist nie aktenkundig geworden. Schenck hielt in seinem Tagebuch jedoch fest, daß keiner der Infizierten seine Zeugungsfähigkeit zurückgewann. Sie alle blieben bis an ihr Lebensende steril.
Die Innsbrucker Behörden meldeten die Angelegenheit nach Wien. Die führenden Wissenschaftler Wiens – Epidemiologen, Pathologen, Histologen, Chemiker, Biologen, Geologen, Mineralogen und Botaniker –, sie alle untersuchten Wasserproben, aber niemand konnte herausfinden, wasdamit nicht stimmte oder welche Substanz der auslösende Faktor gewesen war. Man testete winzige Wassermengen an Tieren, und bei männlichen Säugetieren hatte es unweigerlich denselben dauerhaft sterilisierenden Effekt.«
»Das ist ja unglaublich!« sagte Axel, dessen wissenschaftliche Neugier längst geweckt war.
»Unglaublich, ganz recht. Unglaublich und noch nie dagewesen. Auf der ganzen Welt ist nie zuvor oder nachher ein ähnlicher Fall bekanntgeworden.«
»Ich habe noch nie davon gehört oder gelesen. Jemand muß doch …«
»Wie solltest du auch? Das geschah im kaiserlich-königlichen Österreich-Ungarn, und um eine Panik zu verhindern und keine Skandalreporter anzulocken, wurde die Sache nie publik gemacht. Schenck wurde verboten, einen Artikel über die Epidemie zu schreiben, ein Verbot, das ihn wahnsinnig fuchste und all seine Träume frustrierte, in der Medizin zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Er beklagt sich in seinem Tagebuch immer wieder bitter darüber.
Also ein medizinisches Mysterium. Keineswegs das merkwürdigste in der Wissenschaftsgeschichte, aber doch ungewöhnlich und fesselnd. Viele Jahre lang hörte man nichts mehr von der seltsamen Wasserkontamination in Braunau. Der Große Krieg kam und ging, gefolgt vom Zusammenbruch der habsburgischen Doppelmonarchie. 1937 endlich, über fünfzig Jahre nach Klara Hitlers erstem tränenreichen Besuch stirbt Horst Schenck. Er hatte drei Korbflaschen mit je fünfzig Litern Braunauwasser aufbewahrt, mehr war vom ursprünglichen Bestand nicht übriggeblieben. Diese vermachte er mitsamt seinem Tagebuch seiner alten medizinischen Fakultät in Innsbruck. Ich brauche dich wohl kaum darauf hinzuweisen, daß Österreich im selben Jahr ins Großdeutsche
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