Geschichte machen: Roman (German Edition)
einer Kollegin in den Staaten.«
Über seine Schulter kann ich erkennen, daß er eine E-Mail geöffnet hat. Ich sehe einen Text, der nur aus drei oder vier Buchstaben zu bestehen scheint. Er nimmt ihn schmunzelnd zur Kenntnis und geht zu einem Tisch am Fenster, neben dem er ein Schachbrett aufgebaut hat.
»Man lernt doch nie aus!« ruft er und zieht einen schwarzen Bauern. »Das hab ich doch glatt übersehen. – Spielen Sie Schach, Michael?«
»Nein … ähm, ich spiele nicht. Also, ich kenne die Regeln, aber ich wäre für Sie kein ernstzunehmender Gegner, fürchte ich.«
»Ach, papperlapapp. Ich spiele fürchterlich schlecht. Einfach fürchterlich. Von meinen Freunden werde ich schon längst nicht mehr ernstgenommen. Gut. Das wäre erledigt.« Er kommt zurück und setzt sich mir gegenüber. »So. Schmeckt Ihnen der Kaffee?«
Ich proste ihm mit der Tasse zu. »Der ist cool. Danke.«
»Kühl? Ach so. Sie meinen, er ist in Ordnung. Cool. Dieses Wort bringt mich immer noch zum Lachen. Immer wieder inMode und wieder aus der Mode, genauso wie Rollschuhe in den letzten ich weiß nicht wieviel Jahren. Ich kann mich noch an die Uraufführung der
West Side Story
in New York erinnern. ›Play it cool, Johnny, Johnny cool!‹ Wann war das? Muß ungefähr … genau, 1957 war das, knapp vierzig Jahre her, in meinem ersten Jahr an der Columbia University. Und die Jugend von heute sagt immer noch ›cool‹. Aber ›cool cats‹ gibt es nicht mehr, oder? Heute gibt es nur noch ›coole kids‹.«
Ich winde mich in meinem Sessel. »Da kenn ich mich nicht aus, Professor. Ich bin vierundzwanzig, da hab ich so was hinter mir.«
»Sagen Sie doch Leo. Ja, natürlich, Sie haben das hinter sich. Vierundzwanzig! Bald werden Sie sich Michael Old nennen müssen. Stimmt, Sie sind im April vierundzwanzig geworden, ich erinnere mich.«
Ich starre ihn an. »Woher wissen Sie denn das?«
»Ich habe selbstverständlich nachgeschlagen. Auf Ihrer Homepage im Vor-r-rld Vide Vep!« Er begleitet seinen grotesk übertriebenen Akzent mit der schwungvollen Handbewegung eines Zauberkünstlers. »Michael Duncan Young, geboren im April 1972 in Herford.«
Heutzutage hat jeder Universitätsangehörige eine Homepage im World Wide Web. Meine ist sterbenslangweilig. Jane hat sie für mich geschrieben, weil sie sich mit dem ganzen Computerkram auskennt, Frames, Hotjava, Applets, VRML – dem ganzen Pipapo. Meine Homepage besteht aus einem blutarmen Lebenslauf, einem Foto von uns beiden am Flußufer, das sie irgendwann eingescannt oder digitalisiert hat oder wie man so was eben in den Computer reinkriegt. Dann gibt es noch ein paar Links zum Historischen Seminar und zu ihrer eigenen Homepage, die viel spannender ist, mit dem Video einer rotierenden DNS-Doppelhelix, aber auch ihr ernsthaftes Zeug ist nicht von schlechten Eltern.
»Und an welchem Tag im April, wenn ich fragen darf?« fährt Zuckermann fort. »Oder darf ich raten?«
»Ich weiß nicht, inwiefern …«
»Wie wäre es … wie wäre es, sagen wir … mit dem
zwanzigsten
? Dem zwanzigsten April? Wie wäre das?«
Ich habe schweißnasse Hände und nicke.
»Wie finden Sie das? Volltreffer! Da stehen die Chancen eins zu neunundzwanzig, und ich lande beim ersten Versuch einen Volltreffer! Und Ihr Geburtsort? Zunächst hab ich das für einen Tippfehler gehalten und geglaubt, Sie wären in Wirklichkeit im englischen Hertford geboren. Aber nein, vielleicht war Ihr Vater ja beim Militär. Vielleicht ist Ihr Geburtsort wirklich das deutsche Herford. Da gab es schließlich bis vor wenigen Jahren einen britischen Truppenstandort.«
Ich nicke wieder.
»Soso. Sie wurden also am 20. April 1972 im deutschen Herford geboren.«
Er sieht mich an und blinzelt. Eine Schrecksekunde lang erscheint er mir als Double des komischen alten Mannes mit Hosenträgern, der damals immer mit den Schlümpfen mitsang, wobei er das Kinn auf den Tisch legte und seine Augen hin und her gleiten ließ, wenn die Schlümpfe an ihm vorbeitanzten.
»Und Sie?« frage ich, um das Thema zu wechseln. »Sie sind doch kein Historiker. Was sind Sie eigentlich?«
Er folgt meinem Blick zu den Bücherregalen. »Ganz was Langweiliges, fürchte ich. Bloß Naturwissenschaftler. Ich bin Physiker, aber wie Sie sehen, habe ich … noch andere Interessen.«
»Die Shoah?«
»Oh, Sie wollen mir mit dem hebräischen Ausdruck schmeicheln. Ganz recht, am meisten interessiert mich die Shoah.« Er sieht mich wieder an. »Sagen Sie, Michael, sind Sie
Weitere Kostenlose Bücher