Geschöpfe der Nacht
genauso versessen darauf wie ich, St. Bernadette so schnell wie möglich hinter uns zurückzulassen.
Wir waren schon einige Häuserblocks weit gekommen, als mir allmählich klar wurde, daß eine Flucht unmöglich war. Die unvermeidliche Morgendämmerung beschränkte mich auf Moonlight Bay, und der Wahnsinn im Pfarrhaus von St. Bernadette lauerte in jeder Ecke der Stadt.
Außerdem floh ich vor einer Bedrohung, der man niemals entkommen konnte, selbst wenn man sich auf die abgelegenste Insel oder den höchsten Gipfel der Erde zurückzog. Wohin ich mich auch wendete, ich würde das in mir tragen, was ich am meisten fürchtete: den Zwang, alles zu wissen. Ich hatte nicht nur Angst vor den Antworten, die ich unter Umständen bekam, wenn ich Fragen über meine Mutter stellte. Grundsätzlich hatte ich Angst vor den Fragen selbst, denn ob sie nun irgendwann beantwortet werden würden oder nicht, schon allein ihr bloßes Dasein würde für immer mein Leben verändern.
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Von einer Parkbank Ecke Palm Street und Grace Drive aus betrachteten Orson und ich die Skulptur eines stählernen Krummsäbels, der auf zwei auf den Kanten stehenden Würfeln balancierte, die wiederum auf einer auf Hochglanz polierten Darstellung der Erdkugel aus blauem Marmor standen, die auf einem großen Bronzeklumpen lag, der an Hundescheiße erinnerte.
Dieses Kunstwerk hatte, umgeben von einem Springbrunnen, drei Jahre lang in der Mitte des Parks gestanden. Wir hatten viele Nächte hier gesessen und über die Bedeutung dieser Schöpfung nachgedacht, die uns faszinierte und erbaute und uns eine Aufgabe stellte – aber nicht besonders erhellte.
Ursprünglich glaubten wir, die Bedeutung sei klar. Der Krummsäbel stellt den Krieg oder Tod dar. Die fallenden Würfel repräsentieren das Schicksal. Die blaue Marmorkugel, also die Erde, ist ein Symbol für unser Leben. Wenn man alles zusammensetzt, hat man eine Aussage über das Menschsein: Wir leben oder sterben, wie die Launen des Schicksals es bestimmen, unser Leben auf dieser Welt wird vom gefühlslosen Zufall beherrscht. Der bronzene Hundehaufen ganz unten ist eine minimalistische Wiederholung dieses Themas: Das Leben ist scheiße.
Dieser ersten Analyse folgten viele gelehrte weitere. Der Krummsäbel ist vielleicht gar kein Krummsäbel; er könnte auch eine Mondsichel darstellen. Die würfelähnlichen Gebilde könnten Würfelzucker sein. Die blaue Kugel ist vielleicht gar nicht der Planet, der uns hervorgebracht hat, sondern nur eine Bowlingkugel. Man findet praktisch unendlich viele Interpretationen für das, was die einzelnen Gebilde darstellen, nur der Bronzeguß ist und bleibt ein Hundehaufen.
Falls man dieses Meisterwerk als Mond, Würfelzucker und Bowlingkugel sieht, könnte es sich um die Warnung handeln, daß unser höchstes Streben (der Griff nach dem Mond) zum Scheitern verurteilt ist, wenn wir unseren Körper damit bestrafen und unseren Geist erregen, indem wir zu viele Süßigkeiten essen, oder uns eine Rückgratverletzung zuziehen, indem wir die Kugel zu stark drehen, weil wir unbedingt einen Kranz werfen wollen. Der bronzene Hundehaufen verrät uns daher die letzten Konsequenzen, die sich aus schlechter Ernährung im Zusammenhang mit übertriebenem Engagement beim Kegeln ergeben: Das Leben ist scheiße.
Vier Bänke säumen den breiten Spazierweg, der um den Brunnen herumführt, über dem die Skulptur thront. Wir haben das Kunstwerk aus jeder Perspektive betrachtet.
Die Lampen im Park sind mit einer Zeitschaltuhr versehen und werden um Mitternacht ausgeschaltet, um öffentliche Mittel zu sparen. Auch der Brunnen hört dann auf zu plätschern. Das sanft sprudelnde Wasser ist der Meditation sehr förderlich, und wir wünschten uns, es würde die ganze Nacht über spritzen; auch wenn ich keine XP hätte, würden wir allerdings keine Beleuchtung vorziehen. Das Licht der Umgebung genügt nicht nur für das Studium dieser Skulptur, sondern ist geradezu ideal dafür, und ein schöner, dichter Nebel kann unglaublich dazu beitragen, daß man die Vision des Künstlers auch richtig würdigt.
Bevor dieses Monument errichtet wurde, stand über hundert Jahre lang eine schlichte Bronzestatue von Junipero Serra auf dem Sockel in der Mitte des Springbrunnens. Dieser Mann war vor zweieinhalb Jahrhunderten ein spanischer Missionar bei den Indianern Kaliforniens: der Mann, der das Geflecht der Missionsstationen begründete, die nun zu weithin sichtbaren Erkennungszeichen geworden sind, zu öffentlichen
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