Geschwister - Liebe und Rivalitaet
psychologisch überzeugend gestaltet. Die 1 9-jährigen Zwillinge Siegmund und Sieglind haben ihre frühe narzisstische Geschwisterliebe unbeeindruckt von den Anforderungen des Erwachsenwerdens bis in die Adoleszenz verlängert: »Zuweilen fanden sich ihre Blicke, verschmolzen, schlossen einEinvernehmen, zu dem es von außen nicht Wege noch Zugang gab.« 16 Siegmund hat gerade sein Studium der Künste aufgegeben. »Statt dessen ging er mit Sieglind spazieren. Sie war an seiner Seite gewesen seit fernstem Anbeginn, sie hing ihm an, seit beide die ersten Laute gelallt, die ersten Schritte getan, und er hatte keinen Freund, nie einen gehabt, als sie, die mit ihm geboren, sein kostbar geschmücktes, dunkel liebliches Ebenbild, dessen schmale und feuchte Hand er hielt, während die reich behangenen Tage mit leeren Augen an ihnen vorüberglitten.« 17
Das Glashaus, in dem sie beide von der Welt abgeschieden leben, zerbricht in dem Moment, als Sieglind den von ihr ungeliebten Herrn von Beckerath, einen 13 Jahre älteren Verwaltungsbeamten, heiraten soll. Der Einbruch der Realität, die Aufgabe, die Schwester in die Arme eines anderen Mannes zu entlassen, konfrontiert Siegmund mit seinem bisherigen Scheitern. Er gerät in eine tiefe Adoleszenzkrise: »Ein Werk! Wie tat man ein Werk? Ein Schmerz war in Siegmunds Brust, ein Brennen oder Zehren, irgend etwas wie eine süße Drangsal – wohin? wonach? Es war so dunkel, so schimpflich unklar. Er fühlte zwei Worte: Schöpfertum … Leidenschaft.« 18
Die Lösung der Krise läge zunächst darin, sich aus der regressiven Verklammerung mit Sieglind zu lösen, eine Trennung zu wagen, ohne die seine Individuation scheitern muss. Aber er ist in seine symbiotische Verliebtheit zu seiner Schwester so tragisch verstrickt, dass ihm nur ein Ausweg bleibt: In einem verzweifelten Anfall von Identitätsdiffusion, Eifersucht und Rache an seinem Nebenbuhler verführt er Sieglind zum Inzest.
Die kurze Skizze der Erzählung von Thomas Mann soll hier lediglich dem Hinweis dienen, dass der Geschwisterinzest eindeutig als Symptom einer individuellen, familiendynamisch verursachten Neurose aufzufassen ist und damit in den Bereichpathologischer Bindungen gehört. Es wurde bereits die auffällige Tatsache erwähnt, dass sich die Wissenschaft, fasziniert von dem Thema und seiner häufigen Darstellung in Mythos und Dichtung und angeregt durch klinische Einzelfälle, so ausgiebig mit dem Inzest und dem Inzesttabu beschäftigt hat, dass die Geschwisterliebe in ihrer normalen Form gar nicht zu existieren schien. Vielmehr wird sie bis heute noch häufig mit inzestuöser Liebe gleichgesetzt, wie das Wesen der Geschwisterbeziehung oftmals unter dem Aspekt des Inzestwunsches und seiner Abwehr gesehen wird.
Ich hoffe, dass die bisherige Darstellung diese teilweise grotesk anmutenden Verzerrungen im Geschwisterkonzept ins rechte Licht gerückt hat. Dabei bedeutet es jedoch keinen Widerspruch zu dem hier entwickelten Konzept der Geschwisterliebe, wenn man erotische, auch durchaus sexuell getönte Anziehungen zwischen Geschwistern besonders in der Pubertät und Adoleszenz als normalen Bestandteil der Gefühlsbindung unterstellt. Auch wenn diese keineswegs zwangsläufig sind, erklären sich die auftretenden erotischen Spannungen zum einen aus den Vorläufern »sexueller« Intimität in der Kindheit, die mit dem Triebschub der Pubertät reaktiviert werden können; zum anderen finden die sexuellen Triebwünsche in dieser Entwicklungsphase im eng vertrauten Geschwister ein gefahrloses und vorübergehendes Übergangsobjekt, das die anfänglich angstbesetzte reife Objektwahl erleichtert. In dieser Situation kann das Inzesttabu zu einer wirksamen Schranke werden, um die mögliche Gefahr sexueller Durchbrüche zu verhindern, vor der auch die normale Geschwisterliebe nicht automatisch gefeit ist. Zweifellos können sublimierte erotische Anziehungskräfte zwischen Geschwistern während und nach der Pubertät die Geschwisterliebe um viele Schattierungen bereichern. Dies betrifft übrigens keineswegs nur Bruder-Schwester-Paare, sondern ebenso Bruder-Bruder- und Schwester-Schwester-Paare.Bei den beiden letzten Konstellationen gehört die homoerotische Komponente ebenso zum Prozess der eigenen sexuellen Identitätsfindung wie die heterosexuelle bei Bruder-Schwester-Paaren. Da jeder Mensch über beide Komponenten in sich verfügt, unterstützt jede Geschwisterliebe die Ausreifung der Geschlechtsidentität, indem die
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