Geschwister - Liebe und Rivalitaet
»Eigentlich kann man euch richtig beneiden. Es gibt zwar immer mal wieder Streit, und je älter ihr werdet, umso besser könnt ihr diesen Streit lösen, aber eigentlich ist das Gefühl, eine Schwester zu haben, die immer da ist und der man alles erzählen kann, doch ein ganz tolles Gefühl, oder?«
ANDREA: »Ja, manche beneiden uns auch, meine Freundin Carola zum Beispiel, die ist Einzelkind, hat ein Riesenzimmer, C D-Plattenspieler und einfach alles, aber sie fühltsich alleine nicht wohl. Lieber ein kleines Zimmer und jemanden haben, mit dem man spielen kann, finde ich. Das ist dann besser, wertvoller so.«
Das Gespräch wendet sich dann wieder der allgemeinen Familiensituation zu. Nur an späterer Stelle ergänzt Andrea, dass die beiden Schwestern sich abends auch ihre Ängste erzählen. Es komme aber auch des Öfteren vor, dass sie sich gegenseitig Angst einjagen und erschrecken, »ein Spiel«, das sie offenbar gut beherrschen, da jede die Ängste der anderen recht genau kennt. Es handelt sich bei diesem, auch bei anderen Kindern beliebten Spiel nur vordergründig um aggressives Kontaktverhalten. Wichtiger dabei ist der konstruktive Beitrag zur Angstbewältigung. Indem sich die Schwestern gegenseitig »spielerisch« mit ängstigenden Situationen konfrontieren (ein böser Mann, eine Spinne, eine Schlange), beugen sie der Verdrängung der Angst vor und leiten, zunächst auf symbolischer Ebene, ihre schrittweise Verarbeitung ein. Die beiden inszenieren immer wieder ihren eigenen Gruselfilm, um das Fürchten zu verlernen.
Das Gespräch mit Andrea deutet zunächst nur die Fülle der Gemeinsamkeiten in der Gestaltung der äußeren Realität an. Aber die Schilderung der positiven Interaktionen lässt vor allem ihre Bedeutung für die innere Realität erkennen. Ihr gegenüber scheinen die Streitanlässe zu einem unvermeidbaren Beiwerk zu verblassen. Die Fülle der Beziehungsmuster enthält wesentliche Elemente der Geschwisterliebe in diesem Altersabschnitt: zusammen spielen; sich gegenseitig helfen; Märchen erzählen; im Notfall für den anderen da sein; nicht alleine sein; herumtoben; kuscheln; über Probleme reden, insbesondere über Ängste; alles sagen, was man auf dem Herzen hat; sich Geheimnisse mitteilen und gegenüber Dritten bewahren. Dabei drückt sich die Dankbarkeit durch die emotionale Tönung in der Schilderung aus. Der andere wird zum absolutenVertrauten, zum Geheimnisträger, zum Ort der Zuflucht, Rettung, Verlässlichkeit und Bewahrung geschwisterlicher Nähe. In all diesen Funktionen kommt es zur Auflösung von Gegensätzen in der Einheit der Liebe.
Im Vergleich zu den früheren Entwicklungsabschnitten erfährt die jetzige Kommunikation eine wesentliche Erweiterung. Die Sprache, das Denken, die Differenzierung der Gefühlswelt scheinen geradezu in ihren neuen Möglichkeiten zu explodieren. Damit wächst die Verständigung zu einem Zeitpunkt sprunghaft an, in dem die Konfrontation mit der Welt außerhalb des Schutzraumes der Familie bisher unbekannte Gefahrensituationen heraufbeschwört. Dieses Zusammentreffen ist nicht zufällig. Die Sprache als phylogenetische Neuerwerbung des Menschen ist unter anderem eine Funktion, die sich entwickelt hat, um Außenbedrohungen begegnen zu können. Indem die Sprache Menschen zusammenschließt, wird sie zu einem wesentlichen Faktor der Konfliktbewältigung und Gefahrenabwehr. In sozialen Gemeinschaften zusammenlebende Tiere verfügen diesbezüglich über differenzierte Instinktmuster, die sie zum kollektiven Flucht- oder Kampfverhalten befähigen.
Für Kinder bedeutet das Verlassen des Elternhauses – der Eintritt in den Kindergarten und in die Schule – neue, als bedrohlich und Angst auslösend erlebte Auseinandersetzungen: Konkurrenz und Rivalität mit anderen Kindern, Leistungsanforderungen durch fremde Autoritätspersonen, Strafaktionen bei Versagen und Scheitern, die Unberechenbarkeit im Verhalten von Erwachsenen, gesellschaftlich produzierte Bedrohungen wie Straßenverkehr, Umweltzerstörung, Arbeitslosigkeit der Eltern und die über den Bildschirm vermittelten Bilder von Kriegen, Flüchtlingsströmen, Hungersnöten und Kindersterben.
Wie das Gespräch mit Andrea schon in den wenigen ausgewählten Passagen zeigt, können sich Geschwister angesichtssolcher Bedrohungen zu kleinen, verschworenen »Schutzgemeinschaften« zusammenschließen. In ihnen bekommen »Geheimnisse« eine wichtige Funktion. Der Begriff Geheimnis ist von dem Wort »Heim«
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