Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Sicherheit und – Dankbarkeit.
6. Pubertät und Adoleszenz als Krise und Chance der Geschwisterliebe
In der Pubertät muss die Kindheit verabschiedet werden. Mit Erreichen der Geschlechtsreife ist der Weg ins Erwachsenenalter unausweichlich geworden. Der Ambivalenzkonflikt des »Ich will und ich will nicht erwachsen werden« begleitet bei vielen jungen Menschen die widerstreitenden Kräfte von Progression und Regression. Der Konflikt kann von solcher Heftigkeit sein, dass er zu Recht als »Pubertäts«- oder »Identitätskrise« bezeichnet wird. Die Herausforderungen des Erwachsenseins können das innere und äußere Gleichgewicht auf bedrohliche Weise verunsichern: Verantwortung für das eigene Handeln, Berufsfindung, Sexualität, Familiengründung und eigene Kinder stehen plötzlich als große Aufgaben vor dem Jugendlichen. Wiesoll man sie bewältigen? Wer bin ich überhaupt? Wie soll ich mich in den tausend Möglichkeiten des Lebens zurechtfinden? Fragen über Fragen. In diesem Stadium der inneren Konfusion und äußeren Orientierungslosigkeit möchte man häufig wieder ganz klein sein. Aber dieser Weg ist durch einen Schamriegel versperrt: Alle Welt schaut prüfend zu, ob und wie man den Schritt in die Zukunft, ins Erwachsensein bewältigt.
Von den Strudeln dieser Entwicklungsphase wird auch die Geschwisterliebe erfasst. Bei dem verzweifelten Kampf um die eigene Identität drohen ihr zwei Gefahren, die Ausstoßung oder die Anklammerung. Oft kann die brüchige Identität in der Pubertät und Adoleszenz nur stabilisiert werden, indem alles abgestoßen und ausgestoßen wird, was eine autonome Selbstfindung zu behindern scheint. Die Werteordnung der Eltern und der Gesellschaft wird auf den Kopf gestellt und durch neue Identifikationsobjekte und durch eine eigene Vorstellungswelt ersetzt. Dabei kann es auch zu einer forcierten Abgrenzung von den Geschwistern kommen, die als Fessel an die alten Familienstrukturen erlebt werden. Das Gleiche, Ähnliche und Verwandte wird wie eine zu enge Haut abgestreift, um das Eigene, die Individualität und Eigenständigkeit freier entfalten zu können. Vielfach mündet dieser notwendige Abgrenzungs- und Ablösungsprozess in Enttäuschungen, Kränkungen und Missverständnissen zwischen den Geschwistern, wodurch eine ernsthafte Belastung ihrer früheren Liebe ausgelöst werden kann. Die Gefahr einer dauerhaften Ausstoßung besteht vor allem in Geschwisterbeziehungen, die zusätzlich durch andere phasentypische Konflikte belastet sind. Eine besondere Rolle spielen dabei Fragen nach der eigenen Intelligenz und Begabung, der schulischen und beruflichen Entwicklung, des Aussehens und der Attraktivität, des Ansehens und der Geltung bei anderen. Die Ausreifung dieser Eigenschaften ist mit Verunsicherungen und Ängsten verbunden und führt zu oft quälendenVergleichen unter Geschwistern. Besonders unter dem Einfluss elterlicher Erwartungen und Rollenzuschreibungen können, stärker als je zuvor, nahezu alle Persönlichkeitsmerkmale bei der vergleichenden Wertung zum Auslöser für Rivalität, Eifersucht und Neid werden. Die Verarbeitung dieser Gefühle und die Überwindung der phasentypischen Distanzierung nach Ablauf der pubertären und adoleszenten Reifungsschritte hängt im Wesentlichen von der Qualität der Geschwisterliebe während der gemeinsamen Kindheitsjahre ab.
Die zweite Gefahr, die Anklammerung, erscheint sowohl für die individuelle Entwicklung wie für die Geschwisterbeziehung prognostisch ungünstiger. Anders als bei der Ausstoßung, die letztlich auf progressiven Ablösungs- und Autonomiewünschen basiert, stehen bei der Anklammerung regressive Bedürfnisse nach Schutz und Geborgenheit im Vordergrund. Die Angst, die Hürden der Pubertät zu nehmen und sich dem erwachsenen Leben zu stellen, kann die regressiven Anklammerungstendenzen in einer Weise aktivieren, dass sie zu einer lebenslangen Fixierung an ein Geschwister führen. In extremen Fällen, wie sie als Vorlage für literarische und filmische Darstellungen dienen, entsteht daraus eine ein- oder wechselseitige Lebensuntüchtigkeit, die die Geschwister in pathologischer Liebe und reaktivem Hass zu einer potenziell mörderischen Lebensgemeinschaft zusammenschweißen kann.
Eine spezielle Form der Anklammerung und neurotischen Abhängigkeit zwischen Brüdern und Schwestern ist der Inzest. Thomas Mann hat das Thema in Anlehnung an Richard Wagners Oper »Walküre« in seiner luziden Erzählung »Wälsungenblut«
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