Geschwister - Liebe und Rivalitaet
bedeutsame und deswegen verinnerlichte Aspekte aller lebensgeschichtlich wesentlichen Beziehungspersonen ihren Niederschlag gefunden haben. Ein zentraler Konflikt in der Pubertät und Adoleszenz ist die Schwierigkeit, zwischen Selbst- und Objektbildern zu unterscheiden. Die Fragen »Wer bin ich selbst, und wer sind die anderen in mir?« oder »Was willich selbst, und wie bestimmen die anderen in mir mein Handeln?« können in diesen Entwicklungsphasen zu einer quälenden Ungewissheit, lähmenden Entscheidungsunfähigkeit und in schweren Fällen zur völligen Identitätsdiffusion führen, bei der das Bewusstsein über die eigene Person seine Konturen verliert.
Die theoretischen Hinweise erscheinen mir wichtig, weil – anders als bei dem Studenten – in der Pubertät und Nachpubertät häufig eine ausgeprägte Bereitschaft zur Identifikation mit älteren Geschwistern besteht, eine sogenannte Überidentifikation, die die eigene Identitätsfindung außerordentlich erschweren kann. In diesen Fällen gewinnen die verinnerlichten Objektbilder die Oberhand und können innerlich das Gefühl dauerhafter Fremdbestimmtheit erzeugen. Dieser Mechanismus findet sich bevorzugt in Geschwisterbeziehungen vom Anklammerungstyp.
Verlassen wir hier die Gefahren der Geschwisterliebe in der Pubertätszeit und kehren zu ihren normalen Bedingungen zurück.
Pubertät ist nicht nur Krise, sondern auch ihr Gegenteil, sie ist Aufbruch und Ausbruch, Abenteuer, Reiz, Experiment, Versuch, Irrtum, Ekstase, Eroberung, Glück und Freiheit. Sie ist alles in einem, sie ist Mut, Hoffnung und Neugier auf das Leben, sie ist das große Lachen über die Leichtigkeit, in der man vorwärts treibt. Sie ist die Freude, lebendig zu sein. Es ist die Zeit der weiten Horizonte und der fernen Ufer. Nichts ist unerreichbar. Die körperliche Kraft, die sexuelle Spannung, das Wissen, die Erfahrung, Talent und Begabung schmelzen zusammen, formieren sich zu Interessen, Zielen und der ersten großen Idee vom eigenen Leben.
Geschwisterliebe in der Pubertät ist die faszinierte Teilnahme an diesem revolutionären Entwurf des anderen in die Zukunft hinein. Wechselseitige Partizipation statt Identifikation.In der fortgeschrittenen Pubertät und Adoleszenz gleicht sich das ursprüngliche Gefälle des Altersunterschieds und des Entwicklungsvorsprungs aus. Die Ungleichheit der Kräfte sucht nach Ausgleich, der das Stadium der Gleichberechtigung und Partizipation einleitet. Der Wechsel von der Identifikation zur Partizipation bezeichnet den Übergang von der kindlichen zur erwachsenen Geschwisterliebe.
Jedes der Geschwister hat inzwischen aus der ungeformten Masse seiner Triebe, Bedürfnisse und Gefühle und aus dem gemeinsamen Erfahrungsschatz der Kindheit eine in Umrissen deutlich erkennbare eigene Individualität herausgetrieben. Die entstandene Struktur verdankt sich nicht zuletzt der Dialektik der Geschwisterbeziehung – ihrer wechselseitigen Anregung, Ergänzung, Förderung und Hilfe. Die Partizipation am Entwicklungsschicksal des anderen wird ein Teil der eigenen Lebensgeschichte.
In der späten Pubertät und Adoleszenz drückt sich die Partizipation in einem hohen Grad an gemeinsamen Interessen, Aktivitäten und Lebensgewohnheiten aus. Sie sind Zeugnis eines »Wir-Gefühls«, das nicht mehr auf einer narzisstischen Verschmelzung wie in der frühen Kindheit oder auf vorherrschenden Identifikationswünschen der späten Kindheit und frühen Pubertät beruht; vielmehr drückt das »Wir-Gefühl« jetzt das beiderseitige Bewusstsein der eigenen unverwechselbaren Persönlichkeit aus, die mit dem Geschwister eine gleichberechtigte Verbindung auf einer neuen, erwachsenen Entwicklungsstufe eingeht.
Die konkreten Gemeinsamkeiten betreffen zum Beispiel die unbegrenzten Möglichkeiten der neuen Medien, besonders des Internet, über die man sich permanent austauschen und informieren kann. Man teilt die Begeisterung für die gleichen Pop-Stars, Jazz-Musiker, Maler, Schauspieler oder Schriftsteller; man besucht zusammen Konzerte, Ausstellungen, Theater,Filme, liebt die gleichen Discos und Kneipen, treibt zusammen Sport, Fußball, Tischtennis, Tennis, Skifahren und Snowboarden, macht im Freundeskreis gemeinsam die ersten großen Reisen, feiert die ersten Feste. Alexander, Boris, Constantin und Daniel, vier Brüder zwischen zwölf und siebzehn Jahren, treten zum ersten Mal als Rock-Gruppe auf mit Gitarre, Klavier, Klarinette und Schlagzeug. Andere Geschwister verbindet ihr
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