Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Sinnfrage des Lebens. Alles zusammen erklärt die eingangs erwähnte Krise der Pubertät und Adoleszenz. Da diese zudem mit einer forcierten Ablösung von den Eltern verbunden ist, sind Geschwister, sofern die Gefahr der Ausstoßung vermieden wird, als stützende Objekte gegen Verunsicherung, Angst, Scham und Einsamkeit oft unentbehrlich.
Die Dialektik der Beziehung, ihre Wechselseitigkeit, wird in dieser Krisenzeit besonders aktualisiert, weil sie eine reale oder auch nur symbolisch verstandene lebensrettende Funktion erfüllen kann, wofür die Geschichte des Studenten ein anschauliches Beispiel liefert. Der Widerspruch, wie er für jede dialektische Situation kennzeichnend ist, besteht von der Oberfläche betrachtet zwischen einem jungen, unerfahrenen und orientierungslosen Bruder auf der einen und einem älteren, erfahrenen und strukturgebenden Bruder auf der anderen Seite.Bei näherem Hinsehen erscheint dieser Gegensatz jedoch als Scheinwiderspruch, weil beide Brüder wechselseitig voneinander profitieren, der jüngere von der Stärke des älteren, der ältere von der Schwäche des jüngeren. In der Realität zeigt sich sogar, umgekehrt zum Anschein, häufig eine größere Abhängigkeit des scheinbar Stärkeren vom Schwächeren, weil Ersterer seine Stärke und Überlegenheit fast ausschließlich aus der Abhängigkeit des Hilflosen speist, während dessen heimliche Stärke darin besteht, für das Selbstvertrauen des anderen notwendig zu sein. Eine solche extreme Konstellation berührt bereits den Grenzbereich einer neurotischen Bindungsstruktur; sie soll an dieser Stelle nur das Funktionieren eines dialektischen Beziehungsgefüges verdeutlichen.
Durch die wechselseitige Unterstützung in einer gesunden Beziehung löst sich der scheinbare Widerspruch zwischen stark und schwach auf, wodurch der Konflikt auf eine höhere Ebene transformiert wird und dort gelöst werden kann. Tatsächlich zeigt die Brudererfahrung des Studenten, dass sich nach Überwindung des Pubertäts- und Adoleszenzstadiums und der zunächst bestehenden Ungleichheit eine gleichberechtigte und partnerschaftliche Bruderliebe durchgesetzt hat. Zumindest lassen weitere Bemerkungen des Studenten über seine jetzige Beziehung zu seinem Bruder diesen Schluss zu. Eine solche Entwicklung erscheint fast logisch, wenn man bedenkt, dass beide Brüder die Erfahrung verbindet, die erste existenzielle Krise für einen der beiden gemeinsam bewältigt zu haben. Dabei spielt für den Studenten die Identifikation mit dem älteren Bruder und dessen Reidentifikation mit dem jüngeren (»So schwach und orientierungslos wie er fühlte ich mich auch einmal«) eine wichtige Rolle. Besonders in der Pubertät bekommen Identifikationen noch einmal eine tragende Funktion. Das Vor-Bild bildet etwas vor, das ich in mir selbst nachbilden möchte. Aus der Summe identifikatorischer Angebote wirdstufenweise die eigene Identität zusammengeschweißt. Durch ihre zunächst stützenden Funktionen bieten sich ältere Geschwister geradezu als Identifikationsobjekte an. Durch die bestehende Nähe, das Vertrauen und die Dankbarkeit kann auch das Andere, das Fremde an ihnen konfliktfreier angenommen und der eigenen Person anverwandelt werden. So wird die Pubertät auch zu einer wichtigen Weichenstellung, das Andere im Geschwister akzeptieren zu lernen – eine Sozialisationserfahrung, die spätere zwischenmenschliche Kontakte durch eine größere Toleranz prägen wird.
Zieht der Student, so bleibt zu fragen, seine unbewusste Motivation für den Lehrerberuf ausschließlich aus seiner Identifikation mit dem Bruder nach dem Motto: »Ich will Schülern etwas beibringen, wie mein Bruder mir etwas beigebracht hat«, oder geht sein Wunsch auf eine noch tiefere Schicht zurück: »Ich will Kinder retten, wie mein Bruder mich gerettet hat?« In diesem Falle würden wir von einer geliehenen Identität sprechen. Das Gesamtbild, das der Student bot, ließ diesen Verdacht nicht ernsthaft entstehen. Trotzdem war es für ihn wichtig, den unbewussten, auf Identifikation beruhenden Anteil seines Berufswunsches zu klären, um besser abgrenzen zu können, inwieweit er inzwischen eine eigene Identität im Sinne eines intakten Selbstbildes in sich aufgerichtet hatte.
An früherer Stelle hatten wir zwischen inneren Selbst- und Objektbildern, sogenannten Repräsentanzen, unterschieden. In den Selbstbildern sind alle eigenständig entwickelten Anteile der Person zusammengefasst, während in den Objektbildern
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